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Dass die Begriffe „Traum“ und „Trauma“ nicht nur im Duden nah beieinanderliegen, wurde mir erst jüngst – nämlich auf dem Gipfelanstieg zur Benediktenwand – so richtig klar.
Mit manchen Bergen verbindet einen ja nicht nur eine traumhaft schöne alpine Erfahrung, sondern auch ein traumatisches Erlebnis. Für mich gehört die Benediktenwand zu eben jenen Bergen, auf die das zutrifft. Denke ich an die Benediktenwand, so fällt mir immer auch dieser Septembersonntag ein. Über zehn Jahre ist’s her, hat sich mir aber für alle Zeiten eingebrannt.
Eine jüngere Kollegin, mit der ich mich damals gerade in einer Art Freundschaftsanbahnungsphase befand, hatte mich wochenlang bequatscht, dass sie für ihre Trekkingreise durch Neuseeland trainieren müsse, und zwar unbedingt auch in Form von Touren durch alpines Gelände, und ich solle sie doch bitte mal zu einer meiner Bergtouren mitnehmen.
Ich schlug ein paar Wanderungen vor, die ihr allesamt zu kurz, zu leicht oder zu niedrig waren, so dass schließlich die Besteigung der Benediktenwand (als eintägige Tour mit kompletter Gratbegehung) in den Fokus rückte: 1.220 Höhenmeter (kleine Gegenanstiege mal außen vor gelassen) und eine Gehzeit von 8 Stunden (ohne Pausen) – das erschien ihr genau passend für ihr Trainingsvorhaben. Da ich die Tour schon mal gegangen war, gab ich zu bedenken, dass wir wirklich den kompletten Tag brauchen würden, also früh in München aufbrechen müssten und erst spät wieder heimkehren würden, und dass es unterwegs anstrengend wird. Weil der Ostaufstieg zur Wand eine seilversicherte Passage beinhaltet, die einem nach dem dreistündigen Zustieg bis dorthin durchaus fordern würde, weil die Gratüberschreitung sich ziemlich hinzöge und weil nach all dem ja noch der ellenlange Abstieg ins Tal folgte. Mit Pausenzeiten auf der Hütte am Fuße der Wand, unterwegs und auf dem Gipfel kam ich auf 10 bis 11 Stunden. Die Kollegin sprühte vor Energie und Tatendrang, wollte auf keinen Fall auf die Gipfelüberschreitung, die alleine schon gut drei Stunden frisst, verzichten und stand am frühen Sonntagmorgen in Top-Ausrüstung am vereinbarten Treffpunkt. Nun gut, dachte ich, sie weiß um die Anforderungen, hat die passenden Sachen an und macht einen fitten Eindruck – wird also alles klappen!
Als wir die Hütte erreicht und eine ausgiebige Pause gemacht hatten, begaben wir uns auf den Steig zur Ostflanke der Benediktenwand. Vor der seilversicherten Stelle riet ich zum Wegpacken der Trekkingstöcke, da man beide Hände brauchen würde, um sich zwischen den mächtigen Felsen durchzuhangeln. Sie ging dicht hinter mir – und auf einmal hörte ich einen Schrei. Die Kollegin war gestürzt (man fällt dort im Felsspalt nicht weit, sondern klemmt sich eher ein bisserl ein, wenn man sich vertritt) und war dann vor allem erschrocken über diesen kleinen Fehltritt. Ich half ihr wieder ans Seil zurück, wir gingen weiter und als wir diese etwas diffizile Passage hinter uns hatten, fragte ich bei einer Trinkpause nochmal explizit nach, wie es ihr ginge, ob sie sich wehgetan hätte. Es ginge ihr gut, sagte sie, aber ihre Knie wirkten zittrig und es bekümmerte sie sichtlich, dass sie sich einen ihrer (für eine Bergtour viel zu langen) Fingernägel abgebrochen hatte. Ob wir denn wirklich die Gipfelüberschreitung machen sollen, fragte ich, meinetwegen müsse das nicht sein. „Auf keinen Fall umkehren!“, war ihre Antwort, sie schaffe das schon, und runter ginge es ja eh immer viel flinker als rauf. Was bei dieser Tour nicht unbedingt der Fall ist, allein aufgrund der Strecke. Sie beharrte aber darauf, das sei alles gar kein Problem, also gingen wir weiter. Einige Stunden und zwei weitere kleine Stürze später saßen wir erneut auf der Hüttenterrasse. Ihre Brille war durch einen Sturz verbogen und ihr Knie aufgeschürft. Sie war mittlerweile schlecht gelaunt und erschöpft. Als ich den Hüttenwirt fragte, ob er meine Kollegin zufällig später mit dem Jeep ins Tal mitnehmen könne, war sie gekränkt und bekräftigte, sie käme da locker noch selbst hinunter.
So begaben wir uns auf den Abstieg. Sie war entkräftet und schwach auf den Beinen, wir brauchten daher dreieinhalb Stunden statt der üblichen zweieinhalb. Unterwegs war sie entsetzt, wie miserabel der Handyempfang war und regte sich nach jeder Serpentine erneut darüber auf, dass sie ihren Freund nicht anrufen konnte, um ihm Bescheid zu geben, dass es sehr spät werden würde, bis sie heimkäme.
Den Wanderparkplatz erreichten wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit. In der Stunde, die wir bis München brauchten, saß sie auf dem Beifahrersitz und telefonierte mit ihrem Freund oder schwieg.
Ich fuhr sie nachhause, sie stieg mit einem knappen „Ciao“ aus dem Wagen und sprach nie wieder ein Wort mit mir. Es war das seltsamste Ende einer Noch-Nicht-Freundschaft, das mir je widerfahren war, alle Fragen blieben offen, der Konflikt, von dem ich nicht wusste, worin er überhaupt bestand, wurde nicht ausgetragen und irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als diese Tour mit K. und alles, was daraufhin folgte als eines der ungelösten Rätsel in meinem Sozialleben abzuhaken (und beschloss, froh zu sein, dass sich so früh herausgestellt hatte, dass das wohl sowieso nichts hätte werden können, mit ihr und mir).
Seither ging ich nur noch eine Teilstrecke dieser Tour und auch die meist alleine. Ich saß dann vor der Hütte auf dem großen Almwiesenplateau und guckte nach oben, zu dem Gipfelkreuz der imposanten Felswand.
Und träumte davon, eines Tages doch noch einmal dort hinauf zu steigen.
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Am Sonntag, den 12. Juli 2020 war es dann soweit. Die Braunschweiger Freunde und Labradoodle Bobby waren für meine Geburtstagstour und den von Söder empfohlenen Urlaub in Bayern eingetroffen – und sie waren seit Wochen heiß auf die Benediktenwand. Natürlich mit Gipfelbesteigung.
Herrje! Ob das gutgehen würde?
Bereits mit einer Woche Vorlauf hatte ich Tourdaten und -varianten nach Braunschweig gemailt, damit schon mal alle Fakten bekannt wären. Das Hundezimmer auf der Tutzinger Hütte war gebucht, das Wetter nahm rechtzeitig eine erfreuliche Kehrtwende von Sintflut zu Sommer, und ich schob alle Gedanken an mein damaliges Tourtrauma beiseite: das Abenteuer sollte beginnen, der Traum gelebt werden.
Statt eines Begrüßungsbussis warf ich am Wanderparkplatz unseren Freunden ein Sackerl mit dem eigens für die coronare Hüttennacht besorgten, besonders leichten Spannbettlaken (in hundepfotenfreundlichem Anthrazit) und eine frische Münchner Breze zu.
Mit vollgestopften Backen und Rucksäcken liefen wir bestens gelaunt in das Lainbachtal hinein. Und weit hinten sah man sie schon aufblitzen: die Benediktenwand!
Nur eine schlappe Viertelstunde blieb unser Wanderglück unversehrt, dann rief der Gatte: „Oh!“ und „Wartet mal!“ und „Schaut euch das mal an!“.
Und wir blieben stehen und schauten und staunten nicht schlecht.
Seine Sohlen hatten sich vom Schuh getrennt, lappten zur Hälfte vom Stiefel herab und schnappten bei jedem Schritt nach dem Schotter auf dem Wanderpfad.
Dass wir die Trocknungsgeräte in der Wohnung als Verursacher dieses Totalschadens an beiden Schuhen ausmachten, änderte an der misslichen Lage natürlich rein gar nichts. Eine schnelle Entscheidung musste her.
Der Gatte testete kurz die im Rucksack befindlichen Trekkingsandalen, aber das würde keine zweieinhalb Stunden zu ertragen sein – und eine Gipfelbegehung war mit solchem Schuhwerk ohnehin völlig undenkbar.
Also machte er auf dem Absatz (der glücklichweise noch an den Schuhen haftete) kehrt, lief zum Auto zurück, düste heimwärts und holte sich dort andere Bergstiefel.
Wir rechneten aus, dass er, wenn alles glatt ginge (unterwegs kein Stau und das Ersatzpaar Bergstiefel noch verlässlich besohlt) und er sich ein bisschen sputen würde, rund zweieinhalb Stunden nach uns bei der Hütte – unserem Tagesziel – ankommen müsste (es waren dann nur anderthalb Stunden, was freilich an seiner Gebirgsjägervergangenheit und nicht etwa am rasanten Tempo auf der Autobahn lag).
Zu fünft liefen wir weiter und hofften, dass es nicht noch einen von uns mit einer derartigen Panne erwischen würde.

Die Tutzinger Hütte empfing uns mit Kuchen und Reutberger Weißbier…
…und einer sehr konkreten Aussicht auf das, was uns am nächsten Morgen bevorstünde…
…und als wir wieder vollzählig waren, konnte der gemütliche Teil des Tages beginnen: Essen & Trinken, ausgiebig Ratschen & Zimmer einrichten.
Beim Abendgassi liefen wir der Abendsonne noch ein ganzes Stück hinterher…
…und starrten paarweise bergauf, bergab oder in die Kamera…
…bis die Hunde dann die Schnauze voll hatten von all dem Geknipse und Gegucke und ihrer ersten gemeinsamen Übernachtung zustrebten.
Die Braunschweiger Seilschaft verfügte über die dickeren Schlafsäcke und sank kurz nach Mitternacht in den wohlverdienten Schlaf, das Dackelfräulein hatte sich zum Gatten in den Schlafsack gekuschelt und schnarchte, nur ich lag wach und fror.
Gegen 2 Uhr spazierte ich bei fast null Grad unter sensationellem Sternenhimmel nochmal zum Nebengebäude, in dem sich die Toiletten befanden und beschloss bei Rückkehr ins Zimmer, unser Fenster zu schließen, auch wenn das dem Raumklima nicht zuträglich sein würde. Schliefen ja alle tief und fest, so dass sie mich für diese Aktion erst am Tag drauf kreuzigen könnten.
Ein paar Minuten später stieg Bobby zu mir ins Bett und legte sich an meine Seite, womit gegen 3 Uhr alle meine Probleme gelöst waren und ich meinem Geburtstagsmorgen entgegenschlummern konnte.
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Danke an Andrea & Wolfgang für die tollen Fotos, und an den großen Braunen für die Bettwärme.
Teil 2 folgt in Kürze, bleiben Sie dran!
Ich vermute, die Kollegin hat sich geschämt und wollte nicht mehr an diese, ihr vielleicht peinliche Erfahrung erinnert werden. Es ist nicht schön, wenn man sich überschätzt hat und dadurch anderen die Tour verdorben hat. Manche wächst an solchen Erfahrungen, aber das ist ein Prozess, der dauern kann.
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Da magst du vielleicht richtig liegen (bzgl. Peinlichkeit), wobei ich damals wirklich alles tat, ihr das Umdrehen zwischendurch wirklich leicht zu machen (ich war ja eh nicht die, die da ganz hoch wollte) und noch nie zuvor jemanden so darauf habe beharren sehen/hören, dass er/sie das aber auf alle Fälle schaffen würde. Also nahm ich sie beim Wort, schließlich war sie erwachsen, aber offenbar war auch das nicht passend. Was weiß man’s (und wenn sie nix sagt, wie soll man’s je auflösen)?
Liebe Grüße in die Isarvorstadt!
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Oh Mein Gott! Meinen Hut ziehe ich vor einem solchen Vorhaben. Respekt!
Der einzige Moment, den ich da hätte teilen mögen, war der, als in die Münchner Brezel ! gebissen wurde. 😉
Ungemein charmant der Bobby, der Sie so fürsorglich wärmte, wie es fast nur große Hunde können.
Zu Ihrer traum(a)haften Exkollegin denke ich mir, dass es ihr wohl ziemlich peinlich war. Könnte ich mir vorstellen, aber wer weiß.
Wir warten auf die Fortsetzung!
Liebe Grüße
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Wegen der Brezn musste ich schmunzeln, liebe Christine, denn womöglich hättest du nicht mal diesen Moment teilen wollen: das waren nicht die allerbesten Münchner Brezn, weil sonntags und weil in Eile, immerhin zwar noch Bäcker und nicht Tankstelle, trotzdem nix für den verwöhnten Gaumen.
Tja, die Kollegin, wer weiß, was bei der los war, ich hab’s längst abgehakt, aber es kann gut sein, dass es was mit Stolz & Scham zu tun hatte.
Liebe Grüße, auch an Bonnie!
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Was für eine spannende Geschichte! Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
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Kommt. Bald!
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klar bleib ich dran!
das liest sich so fein, dass i größte lust auf eine bergtour gekriegt hab, auf luft und licht und weiten blick; auf diese spezielle, lebendige stille in der höhe und auf die wohlig befriedigende müdigkeit in den gliedern, wenn eine ordentliche strecke geschafft ist …
❤ pega
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Na das freut mich, liebe Pega, wenn ich ein bisserl inspiriern konnte, und nun, da die Müdigkeit aus den Haxn gewichen ist, könnte ich auch glatt schon wieder losstiefeln…
Herzlichen Gute-Nacht-Gruß gen Westen,
Natascha
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ha!
es bleibt spannend, wie i eben sah!
🙂 😉
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Bis dahin klang alles nach Traum, aber dann … Haha, ich will hier nicht zu viel verraten durch meinen Kommentar 😉 Ganz liebe Grüße (noch) aus Mittenwald von der Braunschweiger Seilschaft!
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Klar, du hörst die Nachtigall natürlich schon trapsen… und klar, es hat schon auch seine Gründe, warum ich den Tourbericht diesmal in zwei Teilen serviere (und die bestehen nicht nur in der Vielzahl der wunderschönen Fotos von euch)!
So viel sei den Lesern der Kommentare aber schon verraten: alle Beteiligten kamen ohne Trauma wieder runter, und das ist ja das Wichtigste.
Alles Liebe nach Mittenwald & gute Heimreise morgen wünscht Euch ergebenst –
Eure Reiseleitung.
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Pingback: Tutto bene?! Der Tourbericht vom 13. Juli 2020. | Kraulquappe
Was für eine spannende Geschichte! Ich freue mich auf die Fortsetzung und habe jetzt selbst Lust auf eine Bergtour.
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Wenn du mal vorbeikommst, stehe ich dir gern als Tourguide zur Verfügung, liebe Anna! Im Gegenzug würde ich mich dann auf ein Schwimmen im Kattegat einladen…
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Abgemacht!
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🙂
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Pingback: Schweißtreibend und atemberaubend – Benediktenwand mit Freunden für’s Leben – anwolf.blog