Gegrübelt Gehört Gekauft

Eine Ode an die Vergänglichkeit.

München, 23. Oktober 2020, um kurz nach 7 Uhr.
Die noch müden Augen weiten sich schlagartig, als ich die Tageszeitung vom Fußabstreifer nehme.

Der Boss auf dem Titelblatt?!? Das gab’s noch nie!
So gering meine Erwartungshaltung bezüglich des heute erschienenen Springsteen-Albums auch war – da macht das Fan-Herz allein schon aus Gewohnheit einen Sprung.

Beim ersten Morgenkaffee mischt sich bald ein Gefühl des Bedauerns hinzu: leider kein Willi-Winkler-Artikel, und auch Herr Kister hatte selbstverständlich Besseres zu tun, also musste durfte der Hentschel den Verriss schreiben, den die anderen beiden so nicht bzw. anders und würdiger in Worte gekleidet hätten. Was soll’s.

Kosmischer Motor? Brief an Gott? Nun ja.
„Letter to you“, so viel ist klar, ist meilenweit davon entfernt, nochmal ein ganz großer Wurf zu sein. Vielmehr wirkt Springsteen auf diesem Album wie einer, der etwas müde – das Leben ist, man muss das so sagen, weitgehend gelebt und ein langer ruhiger Fluss geworden – am Ufer steht, auf die Weiten eines Sees (vermutlich in seinem Privatbesitz) hinausblickt und nochmal ein paar Steinchen springen lässt. Aus Zeitvertreib, aus Melancholie, aus Nostalgie, und weil er wissen will, ob er’s noch kann.

Manche flutschen ihm etwas zu glatt aus der Hand und über die Wasseroberfläche, manche gehen nach nur einem kläglichen Hüpfer plump unter und nur wenigen auserwählten Steinchen gelingt plattelnderweise eine Fluglinie, die dem Zuschauer/-hörer spontan ein ehrfürchtiges Wow! entlockt. Ja, da schau her, er kann’s noch!

Der 71-jährige Springsteen bückt sich keinesfalls wie alter Mann, wenn er Stein um Stein aufhebt und zum Wurf ansetzt, aber inhaltlich und musikalisch dreht er sich wie ein Kreisel um sich selbst, hat nichts Neues mehr zu erzählen, vertraute Versatzstücke werden aneinander gereiht (und bestenfalls neu gemischt), er sucht nicht mehr nach Antworten auf Fragen, die zu stellen er längst aufgehört hat, zumindest im tonkünstlerischen Teil seines Seins.
Die großen Geschichten, sie sind auserzählt, ab einem gewissen Punkt wird halt vieles Wiederholung, und das ist auch nicht weiter verwunder- oder verwerflich (die wenigsten erfinden sich permanent neu oder sprudeln bis ins hohe Alter ungebrochen vor Kreativität), sondern der übliche Lauf der Dinge, erst recht in einem privilegierten, weil zumindest materiell vollkommen wattierten und abgesicherten Leben.

Der Mann mag zwar immer wieder mit seinen Dämonen und Depressionen zu kämpfen haben, die zahlreichen seiner Songs eine gänsehautbescherende Tiefe einhauchten, aber eine gewisse Sorte „Hungergefühle“, wie sie dem Schaffen seiner frühen Jahre noch anzuhören war, peinigt ihn längst nicht mehr.
Er ist satt. Nicht überfressen, aber eben sehr gut gesättigt. Alles, was jetzt noch kommt, ist der Nachschlag zum Nachschlag, die ebenso überflüssige wie klebrige Kirsche auf dem Sahnehäubchen eines Desserts, das bereits aus purem Genuss verzehrt wurde und für dessen Verspeisen nicht mal mehr ein kleines Hüngerchen die Kaumuskeln in Gang gesetzt hatte.
Aus gediegener Gewohnheit wird die Kirsche nun abermals zerkaut, pappt sich wie immer in die Krone des maroden Backenzahns, aber ja, sie schmeckt schon noch, und sie schmeckt erwartungsgemäß süß. Ein Überraschungsgefühl stellt sich beim Verzehr nicht ein, und so ähnlich ist das auch mit den zwölf Songs von „Letter to you“.

Das im Herbst des Lebens produzierte Winter-Album.

In Summe ist’s ein etwas glanzloser Abgesang auf die ehemaligen Glory Days geworden, das neue Album, zwar sind ein paar Perlen dabei (besser gesagt: schöne Momente und tröstende, poesiealbumartige Miniaturen, sogar ein paar verheißungs- und kraftvolle Ausbrüche hie und da), aber das war’s dann auch schon.
Der einst so wunderbar wummernde Zug, die von einem donnernden Herzschlag angetriebene Dampflok, die ihre treue Fangemeinde über Jahrzehnte stets mitzureißen verstand, hat das Land of Hope and Dreams längst verlassen.
Am Horizont ist ihre Rußwolke noch erkennbar, mit kohlegrauen Kringeln malt sie ein farewell in den düsteren Himmel dieser gespaltenen, zerfallenden, immer fremder werdenden Nation.

Oder steht da doch eher fair well?
Man kneift die Augen zusammen, versucht, ganz genau hinzusehen, aber die Schrift am Horizont, sie verblasst zusehends, mit jedem Lidschlag verschwimmt sie ein bisschen mehr. Und es ist auch unerheblich.
Worte sind manchmal kaum mehr als Schall und Rauch, den Noten ergeht es da keinen Deut besser, und bekantlich ist alles, was man mit Liebe betrachtet (oder hört), auf seine ganz eigene Art und Weise schön (wenngleich über Jahrzehnte wiederholte Liebeserklärungen etwas von einer hängengebliebenen Schallplatte haben – sei’s drum, ich steh‘ dazu).

Die Titelschlagzeile der Süddeutschen, gleich unter der Ankündigung der Rezension zum neuen Springsteen-Album, lautet: „Die Situation ist sehr ernst“.
Freilich gilt diese Überschrift weder dem Boss noch seinem Schaffen, sondern der Pandemie und dem Virus, das der Welt zu schaffen macht, bemerkenswerterweise trifft sie aber auch ein bisschen den Kern des neuen Albums: Es ist eine Ode an die Vergänglichkeit und insofern ist seine Botschaft durchaus ernst.
Leider ist es eine etwas öde Ode. Selbst aus den großen Themen der Menschheit (Freundschaft, Liebe, Abschied, Tod…) lässt sich nicht auf Biegen und Brechen ein großer Klangteppich weben, manchmal wird eben nur ein kleiner Bettvorleger draus.

Nun, da die kalte Jahreszeit anbricht, wird manch einer froh und dankbar sein, wenn er seine noch nackten, bettwarmen Füße auf dieses anheimelnde, flauschige Etwas stellen kann, anstatt sie schon frühmorgens dem unwirtlichen, kühlen Boden auszuliefern.

Ja, es wird kalt.
Hüllen wir uns also ruhig ein in diese testamentarischen Töne, die – bei aller erlauchten Ernsthaftigkeit, die ihren Erschaffer getrieben haben mag – nirgends unangenehm pieken, an alten Narben ziepen oder im verwitterten Mansion on the hill (einem seiner besten Songs der frühen Jahre) fest verriegelte Türen jäh aufreißen und das dahinter eingelagerte Innenleben verstaubter und dunkler Räume offenbaren, dessen Anblick man gerade jetzt (oder überhaupt) womöglich nicht mehr ertragen könnte.

One minute you’re here, next minute you’re gone.
Wo er recht hat, hat er recht, der altersweise, gute Mr. Springsteen.

So, ich geh‘ dann mal eine Runde Schwimmen, grüße die Tramps unter meinen Lesern ganz herzlich, wünsche eine angenehme Lektüre des Briefes, der uns heute aus New Jersey gesandt wurde – und allen anderen ein schönes Wochenende.

21 Kommentare zu “Eine Ode an die Vergänglichkeit.

  1. ha!
    sah es auch gleich u müsste
    sofort an dich denken, natascha. 🙂

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  2. Großartig geschriebene Rezension, da können die SZ-Autoren allesamt einpacken, einerlei wie sie heißen.

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  3. evaannacarola

    Wundervolle Rezension. Die hätte es sein sollen. Eine „öde Ode“? Echt jetzt? Trotz der ganzen recht mager ausgefallenen Bewertung liegt so viel Herz in dem Text, dass der Boss wohl zufrieden wäre.

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    • Danke dir für diese Worte, ich könnte darauf ein ganzes Universum entgegnen, wieso dem nun so ist (so viel Herz trotz einer Gesamtwertung von 3 minus), fasse mich aber kurz: Springsteens Musik war für mich der Schlüssel zu einer neuen, weiten Welt, die sich mir in einer Phase der Enge (und Verzweiflung) auftat. Diese Offenbarung bzw. die Geburtsstunde dieser Liebe ist zwar sehr lang her, hat sich aber in ihrem Kern hartnäckig gehalten. Er hat Songs geschrieben, die für die Ewigkeit gemacht sind, und vieles, das zum Soundtrack meines Lebens wurde.
      Allein dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.
      Amen 😉

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  4. Hauptschulblues

    Lou Reed sagt 1974: „Springsteen is a good Guy“.

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  5. Nu hab ich doch tatsächlich: „Ich grüße die TRUMPs unter meinen Lesern“ gelesen! Na gugge, wie ich schon konditioniert bin vom ewigen Dauerfeuer: heute tritt er zurück….nee morgen….heute wirklich…
    Was den „Boss“ angeht: Immerhin weiß er, dass man sich in seinem Alter schnell lächerlich macht, wenn man die Welt „von gestern“ beschwört, oder so tut, als könne man noch viel verändern, in einer Zeit, da die 30jährigen schon googeln müssen, wer dieser Springsteen war, den Opa neulich beim Wochenendtelefonat erwähnte.
    Robbie Robertson trat mit dem letzten Album auch thematisch ganz schön auf die Bremse.

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    • Um Himmels Willen, die Gefolgschaft nennt sich natürlich keinesfalls „Trumps“, lustiger Verleser aber…
      Und was Bruce angeht: ich bin ja gar nicht enttäuscht oder so, hatte keine große Erwartung an das Album, und ich nehm ihm diese teils etwas öde Ode auch in keiner Weise übel. Ist schon ok, zudem isses solide produziert und mittlerweile (nach mehrfachem Hören) hab ich drei der Titel wirklich lieb gewonnen (ein onkeliges Verb, das es aber ganz gut trifft, denn „umgehauen“ wäre zu viel gesagt), einen davon (in meinem Geburtsjahr komponiert und erst jetzt vertont) sogar regelrecht ins Herz geschlossen.

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  6. „They say you gotta stay hungry
    hey baby I’m just about starving tonight“ – fiel mir ein, als ich diese tolle Besprechung gelesen habe. Schöne Erinnerung!

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    • Immer wieder schön, Menschen zu treffen, die sofort ein paar Verse von Bruce aus dem Ärmel schütteln können. Und diese hier sind natürlich unvergessen!

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  7. Liebe Natascha,

    nun auch von mir ein paar Worte zum neuen Album – hatte veranstaltungsbedingt nicht allzuviel Muße, es in Ruhe zwei, dreimal anzuhören (in Ruhe ein Rockalbum anhören – was schwafel ich da für ein Blech? Aber Du weißt was ich meine … 😉 )
    Aber erstmal zu Deiner Rezension: Klasse Bildersprache, die Du gefunden hast … auch sehr stimmig – auch wenn ich da bei der Teppich-Sache ein klein wenig widersprechen mag, denn mir sind die Teppiche da z.T. zu dicht und flauschig gewebt … ich finde früher haben sich die E-Streeter gegenseitig jeweils mehr Raum gelassen, die Soli – egal ob Gitarre, Saxophon, Piano oder Orgel stachen mehr heraus – aber das mag ein Problem der modernen Abmischung und Produktion sein, die versucht, die Pegel insgesamt lauter zu mischen … mir fehlen solche überraschenden Momente wie z.B. in „Candy’s Room“, wenn nach den sich zum Klangrausch steigernden ersten Strophen der Break kommt und Bruce’s Telecaster ihr Solo in die plötzliche Stille fetzt, erst das Gas rausnimmt und dann brachial wieder beschleunigt … wie Du schreibst, Bruce setzt auf bewährte Rezepte und Strickmuster – und es fehlt in mancher Hinsicht der Hunger, die Leidenschaft der frühen Zeit – er läßt seine Telecaster schon lange nicht mehr so schreien wie bei den Soli von „Candy’s Room“, „Adam raised a Cain“ oder „Saint in the City“ … aber trotzdem, die Scheibe gefällt mir besser als das meiste, was nach „The Rising“ kam … sie wird bei mir noch ’ne Weile rotieren …
    (merke grade die 3 letztgenannten Songs hatten wir alle in Berlin 2016 – was für ein Fest war das!)

    Liebe Grüße & einen guten Wochenstart!
    Spike

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    • Lieber Spike,
      na endlich, so möchte ich wie einst die Telecaster in Candy’s Room kreischen, endlich trudelt deine Rezension zu meiner Rezension bzw. zum neuen Album ein. Hatte schon überlegt, ob du im Flauscheteppich versunken bist und nicht mehr hochkommst zum Laptop, das ja hoffentlich, wie in jedem anständigen Homeoffice, auf dem Schreibtisch steht. Womit wir auch gleich beim Thema wären: die Teppichsache. Ich sehe da nämlich keinen Widerspruch zu dem, was ich meinte. Auch mir ist der Teppich diesmal (selbst wenn’s nur ein Bettvorleger ist) zu flauschig geraten, aber zur nahenden Wintersaison verzeih ich auch das. Und nach mehrfachem Hören der neuen Scheibe geht’s mir auch immer noch so: das Meiste ist mir zu weich und gefällig, zu lasch und vorhersehbar. Dennoch ist (und auch hier scheinen wir uns einig zu sein) das Album um Einiges besser als die letzten paar, auf denen teilweise jeweils nicht mehr als ein wirklich wichtiger Song zu finden waren. Von den 12 Songs auf „Letter to you“ sind es 3, die mich mitreißen, aus unterschiedlichen Gründen, und von den dreien nach derzeitigem Stand nur einer, der das Zeug hat, in meine Top-50 (von Bruce) einzugehen. Dazu bei Gelegenheit mehr (hier im Blog).
      Toll geschrieben, dein kleiner Abriss, danke dafür, denn wie du weißt, bin ich ja ziemlich lyrics-fixiert.
      Liebe Grüße zurück (die Woche starte ich aber erst morgen Früh, hoffe, das geht ok?)
      Natascha

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      • Genau so war’s gemeint …

        Hatte Freitag abend nochmals Live-Musik unter verschärften Corona-Bedingungen mit Maskenpflicht auch am zugewiesenen Sitzplatz und heute die Feier zum 18ten meines Neffen Samuel, die Pandemie-gerecht im Schichtbetrieb durchgeführt wurde und bei milden 20° sogar zum Kaffee auf der Terrasse stattfinden konnte – die abkühlende Außenluft sorgte dann automatisch gegen 17:30 zum Schichtwechsel der Gäste … wir gingen, bevor die Spätschicht dann zum Abendessen kam … irgendwie fehlte eine längere Autofahrt, um das Album mal mit Muße wirken zu lassen … 😉

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  8. Es sei Bruce Springsteen gegönnt, dass er mit sich im Reinen ist, aber die letzte Bastion echter Musik ist er deshalb doch noch nicht.

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    • Nein, das ist er freilich nicht, hab ich auch nie so gesehen oder behauptet. Dennoch halte ich das neue Album für recht authentisch, insofern also durchaus für „echt“. Aber Echtheit allein reißt’s ja auch nicht raus, wenn es Worten und Noten an Tiefe oder Brillanz fehlt. Das Album ist eine solide Sache geworden, aber eben keine Offenbarung.
      Liebe Grüße in die Schweiz!

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  9. Pingback: Song des Tages (62). | Kraulquappe

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