Sofern Sie zu den Vernünftigen gehören, die sich gerade nicht an den letzten Ladenöffnungsminuten laben, haben Sie ja vielleicht ein wenig Zeit und Muße für ein kleines Filmchen, das Ihnen anschaulicher als jedes Gerede oder Geschreibe meinen Gemütszustand nahebringen wird (bitte drehen Sie für einen möglichst authentischen Eindruck zuvor die Lautstärke an Ihrem PC/Laptop/mobilen Endgerät voll auf):

Nun soll dieser Helikopter-Höllenkrach aber nicht nur eine schnöde Metapher für mein etwas aus den Fugen geratenes inneres Gleichgewicht sein, nein, nein! Sondern aktuell vermag auch nichts unsere häusliche Situation in dieser ohnehin schon an Besinnlichkeit kaum zu überbietenden Vorweihnachtswoche trefflicher zu beschreiben als so eine Bell UH-1 während der Startphase.

Gestern Morgen, ich war noch im Nachtgewand, läutet Lolek bei uns. Vertraut wie wir ja nach diesem intensiven gemeinsamen Jahr längst miteinander sind, öffne ich ihm selbstverständlich trotz dieses Outfits die Tür.
Heute werden ganze Tag sehr laut“ , krächzt er nach einem schnellen Morgensalut (= riesiger Werkzeugkoffer knallt auf Treppenhaussteinboden) unter seinem Schirmmützchen hervor. Ich lächle müde und entgegne ihm mild: „Aber Lolek – es war doch schon die letzten beiden Wochen fast jeden Tag sehr laut!„. Mein Lieblings-Pole senkt den Blick und meint: „Aber heute sehr, sehr laut – mussen fräsen Estrich. Hoffen, fertig in drei Tage.
Ich nicke, weil mir keine andere Reaktion einfällt, wir wünschen uns jeweils einen guten Start in die Woche, ich schließe die Tür und schlurfe in die Küche zurück. Mein Morgenhorizont reicht gerade mal bis zum Toaster und unter „Estrich fräsen“ kann ich mir spontan und um diese Tageszeit noch nichts Konkretes vorstellen.

Keine fünf Minuten später ändert sich das schlagartig. Lolek und Bolek werfen die Höllenmaschinen in der Wohnung über uns an, die Wände unserer Wohnung vibrieren, wir fürchten um die schweren, gerahmten Bilder und plärren uns zu, ob und wie wir das nun ganztags aushalten sollen (geschweige denn bei dem Lärm arbeiten), das Fräulein kreucht verschreckt durch den Flur und guckt uns hilfesuchend an.
Man hätte es ahnen sollen: Spricht der Pole von einem Arbeitstag, ist damit schließlich keine poplige Nine-to-five-Schicht gemeint, sondern ein Einsatz, der sich mühe- und pausenlos von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr abends hinziehen kann, wenn zwischendurch nicht die Zementsäcke oder die Sobieskis zur Neige gehen. Analog verhält es sich offenbar mit der Ankündigung, es würde „sehr, sehr laut“ werden.

Dem Gatten, dem an diesem Vormittag noch ein Zoom-Meeting und eine Vorlesung bevorstehen, platzt der Kragen und er ruft umgehend und mitten aus dem Hubschrauberlärm den Vermieter an.
Es ist ja in Zeiten von Homeoffice und Lockdown-light schon ärgerlich genug, dass eine mehrwöchige Renovierung mit keiner Silbe vorher bekanntgegeben wird, aber diese Beschallung schlägt dem Fass nun endgültig den Boden aus und die Aussicht auf mindestens drei solcher Hubschraubertage in Folge bringt den Kreislauf binnen Sekunden vermietertelefonattauglich in Schwung.
Ja, das ist blöd, aber da müssen wir halt jetzt durch“ , lautet die Devise des Hauseigentümers – dabei ist der Punkt doch der, wer von uns ganz praktisch betrachtet eigentlich da durch muss und ob dieses Da-durch-Müssen nicht (s)einen Preis hat und wenn ja, wer den zu bezahlen hat.

Nach einigem Hin und Her und etlichen, in und bei brüllender Lautstärke absolvierten Telefonaten, ziehen wir mit Sack und Pack (Laptops, Netzkabeln & Co., Verpflegung bis zum Abend, Hundekörbchen & dazugehörigem Hund etc.) in ein fußläufig entferntes Hotel, das seine Zimmer tagsüber an heimatlose Homeoffiziere vermietet. 30€ pro Zimmer, 10€ für den Hund, gratis Kaffee, Wasser und WLAN.
Kann man nicht meckern, im Gegenteil: ist durchaus ein toller Tipp für all die, denen zuhause die Decke auf den Kopf fällt, sei es renovierungsbedingt oder weil einem der eigene, energiegeladene Nachwuchs oder die klavierklimpernde, kurzarbeitende Nachbarin auf den Keks geht.

Das Hotel um die Ecke kennen wir schon, da wir hier die letzte Nacht vor dem Ende der großen Wasserschadensanierung zugebracht hatten. Hello again!
Zur Begrüßung gibt’s einen Formularberg (zur Dokumentation, dass sie auch ja nicht zu touristischen Zwecken vermieten), es folgen zwei nebeneinander liegende Zimmer (damit es sich auch ja anfühlt wie zuhause und man den Partner z.B. bei technischen Problemen wie gewohnt fluchen hören kann), zwei nicht auf Anhieb funktionierende Türkärtchen und zwei aus der guten Togobohne frisch aufgebrühte Heißgetränke – und schon geht’s auf in den Tag!

Geschmeidiger könnte eine neue Woche kaum starten!, denke ich ganz kurz bei Betreten meines in erheiterndem Dunkelgrau gestrichenen Zimmers, aber es bleibt gottseidank keine Zeit für weiteres verdrießliches Vertiefen in dieses Zwischenfazit, weil ich schon wieder meinen Rucksack umpacken und mich auf den Weg machen muss. Zum Tierarzt.
Ein Termin, den ich ursprünglich deshalb vereinbart hatte, um mir zu der beim Dackelfräulein diagnostizierten Umfangsvermehrung eine Zweitmeinung einzuholen. Dann aber bekam der Termin am dritten Advenstssonntag eine neue Dimension, als wir feststellten, dass der Umfang der Umfangsvermehrung sich binnen einer Woche spürbar vermehrt hatte – und, was uns einen noch viel größeren Schreck einjagte, auch noch Gesellschaft bekommen hatte von einer zweiten, zwar kleinen, aber ebenfalls merklichen Umfangsvermehrung in der Nähe der ersten (Advent kommt ja bekanntlich von advenire).

Quer durch die Stadt also zu der Praxis, das Fräulein gar nicht begeistert, als es kapiert, wohin die Reise geht und meine Wenigkeit (ein Begriff, den ich selten als passender empfand, u.a. aufgrund der Entdeckung, dass trotz enger geschnalltem Gürtel die Jeans wirklich arg locker sitzt) ebenfalls gar nicht begeistert, als ich kapiere, dass meine Einschätzung erneut korrekt war.
Mit zwei kleinen Tumoren und einer großen Beratung verlassen wir beide reichlich bedrückt die Tierärztin, draußen im Park drückt es die restlichen Tränen, die ich mir im Behandlungszimmer verkniffen hatte, auch noch hinaus und die Stimmung sinkt trotz ein paar erster wärmender Sonnenstrahlen seit Tagen unter den Gefrierpunkt.
Auf dem Nachhauseweg, der nun nicht mehr nachhause, sondern zum Hotel führt, schicke ich dem Gatten eine Nachricht, dass ich vor Hunger sterbe, was den ersten guten Moment dieses Tages zur Folge hat – bei Ankunft im Hotel erwartet mich eine köstliche Pizza, die genau so ist, wie ich Pizza liebe: dicker, krosser, mit ein paar leicht angekokelten und aufgeplatzten Blasen versehener Rand, wenig Belag, schön warm und in verzehrfreundliche, ordentliche Achtel vorgeschnitten.

Nach dem gemeinsamen Mittagsmahl im neuen Homeoffice des Gatten ziehe ich nach nebenan um, telefoniere in Sachen Mammatumoren mit der Freundin und falle anschließend auf dem Hotelbett in ein Kurzkoma.
Bis Anfang Januar brauche ich Klarheit, wie viel wir da nun operieren lassen werden. Von vier Optionen, die mir die Veterinärin erläutert hat, scheidet für uns lediglich eine ganz klar aus. Das Kopfzerbrechen, das die übrigen drei noch bescheren werden, dürfte die Energie, die noch via Weihnachtsgebäck einverleibt werden wird, deutlich übersteigen.
Ich habe eh noch nie verstanden, wie Menschen in Kummerphasen zunehmen können, mir schnürt es da von jeher den Magen zu.

Was ich auch nicht verstehe und mir seit Monaten immer mal wieder Kopfzerbrechen beschert: Wie kann das eigentlich sein, dass Asien manch einem Deutschen (oder Europäer?) nur dann als Inspirationsquelle taugt, wenn es drum geht, sich ein bisschen Zen-Zauber in den eigenen Garten zu holen, selbstgetuschte Haikus über den Futon zu hängen, Reizdärme in der TCM-Klinik behandeln zu lassen oder daheim auf dem Kapokkissen kauernd das blockierte Wurzelchakra im Dufte der räucherstäbchenbestückten Buddhafiguren wegzuatmen?
Wenn das doch so anregend, beglückend und heilsam ist, wieso dann nicht auch mal nach Asien schauen, wie sie dort mit so einer Pandemie umgehen? Und sich da was abschauen?! Da mault keiner herum, was die Maskentragerei angeht (oder wähnt sich deshalb gar dem Erstickungstode nahe), die sitzen bereits wieder in Großgruppen gemeinsam im Kino und Lokalen (dazu hier ein Lektüre-Tipp).

Und sonst so?
Nicht allzu viel, reicht ja auch so schon.
Der Papa zerbricht sich den Kopf übers Weihnachtsessen und seine Lebensgefährtin weint dem Schäufele nach, das es sonst immer gab, mit uns aber nicht geben wird. Wie früher (fast schon vergessen) ist Weihnachten die Zeit der familiären Kontroversen.
Die Jugendliebe wurde tagelang mit Sauerstoff versorgt, hat das Wiener Spital zwischenzeitlich wieder verlassen, hängt nun daheim in den Seilen und hofft auf baldige Rekonvaleszenz. Mit dem in Aussicht gestellten Erbe wird es also gottseidank nichts.
Der hübsch Bewimperte hat edlen Loden bestellt und möchte unseren Hundedamen was auf den Leib schneidern, im Gegenzug werde ich ihm meinen Fugenhai vorführen, d.h. wir begeben uns wohl an den Feiertagen mal zusammen in Klausur und werkeln ein bisschen.
Der Gatte ist nach nur einem Tag Hotel-Homeoffice aufgrund diverser technischer Imponderabilien, auf die näher einzugehen ich mir und Ihnen erspare, heute Morgen nach Frankfurt gereist, um dort seine letzten Dienstgeschäfte und Vorlesungen für dieses Jahr ohne Störung und in einer mehr oder weniger menschenleeren Universität zu erledigen. Das Bahnticket werden wir, wie alle anderen Sonderausgaben dieser Helikopterwoche, dem Vermieter zur Erstattung weiterreichen.
Vor den beiden Friseurläden in der belebten Lindwurmstraße, in der auch das Homeoffice-Hotel liegt, sind ganztags lange Schlangen zu verzeichnen. Dutzende Männer stehen an, um sich das Haupthaar ein letztes Mal in diesem vertrackten Jahr stutzen zu lassen. Und sie stehen eng beisammen, ratschend und rauchend.

Mein Handy klingelt.
Lolek ruft an und teilt mit, dass für heute Ruhe an der Fräsfront ist und wann morgen Früh der Hubschrauber wieder starten wird.
Das kleine Hündchen und ich spazieren durch die dunkle Lindwurmstraße heimwärts. Von irgendwoher dringt Gehupe und Geschrei in meine Ohren. Als wir uns unserem Wohnhaus nähern, erklärt sich dessen Ursache: Auf der Theresienwiese findet unter Mordsgetöse eine Demo statt.
Es gibt keine Katastrophe, weil es keine Krankheit gibt. Die Krankenhäuser sind genauso belegt wie jeden Herbst und Winter. Wir lassen uns nicht verarschen. Dieser Lockdown ist ein Verbrechen an den Menschen und der Menschheit. Wir lassen uns nicht in Ketten legen.
Ein Großaufgebot der Polizei umkreist das Spektakel und wird die Versammlung in Kürze auflösen, da die meisten ohne Abstand und Maske unterwegs sind.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen guten Abend und mir, in sofortigen, tiefsten Winterschlaf zu fallen, nichts mehr zu hören und zu sehen, und erst dann wieder aufzuwachen, wenn das Dackelchen tumor- und die Theresienwiese dummheitsfrei ist.

1 Kommentar zu “Wo der Lindwurm tobt.

  1. Pingback: Gekäst, geboostert, geschneit. – Kraulquappe

Kommentare sind geschlossen.

%d Bloggern gefällt das: