Ein Scharlatan ist sie, die Erinnerung.
Aus dem Erlebten schnitzt sie sich nachgerade das heraus, was sie behalten möchte oder kann. Heftet sodann jenes willkürlich Herausgeschnitzte als lose (oder wahllos?) aneinandergereihte, biographische Bilder (mit oder ohne Erläuterungstext) an die schier unendlich große Pinnwand unserer Lebenssouvenire.
Von dort gucken sie uns an, all diese arrangierten Andenken. Oder lassen sich von uns angucken.
Etliche lächeln uns freundlich zu, manche zwinkern auffordernd, ein paar strahlen vor Glück und springen uns regelrecht an mit ihrem übermütigem „Mensch, weißt du noch…?“-Gehabe.
Andere hingegen glotzen mahnend oder anklagend oder grausam von ihrem Pinnwandplatz aus herüber, manche blinzeln müde durch einen Tränenschleier hindurch und es ist kaum möglich, länger Blickkontakt mit ihnen zu halten.
Im Laufe der Jahre gewöhnen wir uns an diese Sammlung, leben mit ihr zusammen, ungefähr so, wie man mit einem Möbelstück zusammenlebt, das man liebgewonnen hat, weil es einem gefällt oder weil es seinen Zweck so treu erfüllt oder weil es einfach bloß zu teuer oder zu sperrig ist, um in einer Aufwallung spontanen Unbehagens oder Überdrusses hinausgeworfen zu werden.
Wir kultivieren sie jedenfalls auf die eine oder andere Weise, ordnen die Bilder vielleicht mal neu und anders oder hängen die gesamte Pinnwand an einen lichteren oder finstereren Ort – aber es wird kaum einen geben, der ihre Existenz und Aufrichtigkeit ernsthaft in Frage stellen würde.
Sie ist da, sie begleitet uns, und sie beeinflusst uns, mal mehr, mal weniger.
Zu selten fragen wir uns, ob das Memorierte damals wirklich genau so war, wie wir es uns (in welcher Gemütsverfassung auch immer) irgendwann einmal zurechtgeschnitzt haben, sondern wir pappen ein „So war das damals!“ drauf und heften es zu all den anderen Postkarten aus der Vergangenheit, die wir uns selbst geschrieben haben, um unsere Lebensreise und deren Stationen zu dokumentieren.
Ein Akt der Selbstvergewisserung quasi, denn es muss doch möglich sein, das gelebte Lebens in der Rückschau als etwas wahrzunehmen – ein Etwas, das sich auch irgendwie als irgendwas fassen lässt (damit es nicht dem Vergessen anheimfiele und damit vermeintlich zur Bedeutungslosigkeit verkäme).
In der Erinnerung richtet man sich die Räume der Vergangenheit so ein, wie man sie bewohnen möchte.
Manche werden zu wahren Prunkzimmern ausstaffiert, die von protzigen Kronleuchtern bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet werden, denn erstrahlen soll es, das alte, edle Mobiliar, und uns vorgaukeln, wie toll sie doch gewesen sei, diese Zeit damals. Dabei war die Episode, auf die sich die opulente Inszenierung bezieht, eine recht gewöhnliche, unspektakuläre Lebensphase.
Egal – betreten wir einen so gestalteten Erinnerungsraum, hauen wir uns dort zufrieden in den samtenen Fauteuil, entledigen uns mit einer lässigen Wippbewegung der Pantoffeln und lassen mal alle Fünfe gerade sein.
[Wenn ich das so schreibe, fällt mir sofort ein ehemaliger Freund ein, einer der besten Anekdotenerzähler, die ich je kannte: jeder auch noch so banalen Lebensphase verlieh er durch sein Erzählen mindestens einen Hauch von Glamour, Skurillität oder Sensation, ein Highlight jagte das nächste, ja, man konnte leicht neidisch werden auf diese Vita, die so völlig unbesudelt zu sein schien von glanzloser Gewöhnlichkeit und temporärer Tristesse, und er erzählte seine Glitzerstories über die Jahre so oft und mit so viel Inbrunst, dass er sich nicht nur dauerverliebte in seine Biographie, sondern auch in sich selbst, den Protagonisten all dieser grandiosen Geschichten.]
Anderes hingegen, das klein, zart und schön war, landet zu Unrecht auf dem Speicher, wird von schnödem Spinnweb befallen und allenfalls ein Umzug oder eine Generalsanierung könnten es diesem traurigen Schicksal entreißen, weil man es nur dann nochmal anfassen und drüberpusten würde und plötzlich der Anmut gewahr würde, die viel zu lang unter all dem Staub begraben lag.
Der Großteil unserer erinnerten Vergangenheit verteilt sich aber kreuz und quer durch die alltäglichen Räume unserer Behausung: sickert hier ein in Dielen, klebt dort hinter Spiegeln, schlummert in Schubladen, hängt an Haken oder ruht in Regalen, das eine wird ein bisserl hindrapiert, das andere eher versteckt, und das meiste ist einfach nur zufällig da, wo es eben gerade ist.
Und ein paar unserer Erinnerungen werden schließlich zu hässlichen Kellerkammern, in denen nichts als Moder und Mief wohnt. Orte, an denen es einen schon als Kind gegraust und gegruselt hat und denen auch die Taschenlampe in der Hand des Erwachsenen oder Jahre später die Sitzungen beim Therapeuten nie ganz und gar ihren Schrecken nehmen konnten.
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Heute denke ich an den 12. Januar vor fünf Jahren, der Tag, an dem N. starb, und zugleich erinnere ich mich an den 12. Januar vor einem Jahr, als ich zu Gast auf einer Geburtstagsfeier war und neben M. zu sitzen kam, eine Begebenheit, die zur Geburtsstunde einer neuen Freundschaft wurde.
Es ist das erste Mal, dass ich nun zwei Erinnerungen an diesen 12. Januar habe, ab jetzt wird das immer so sein, und wer weiß, vielleicht kommt irgendwann noch eine dritte hinzu.

Während N. nach seinem nächtlichen Lauf heute vor fünf Jahren für immer in den Schnee sank, machten M. und ich uns heute vor einem Jahr bei Sonnenschein auf, fortan als Freunde durch die Welt zu wandern.
Gut, zwischen diesen beiden bedeutsamen Ereignissen im Reich der Freundschaft lagen 4 intensive Lebensjahre, 2 aufreibende Umzüge, 1 gottseidank schnell bemerkter Jobirrtum und allerhand andere Schicksalsschmankerl – so gesehen wäre es ziemlich albern, jetzt zu behaupten, dass sich immer dann eine Tür öffnen würde, wenn eine andere sich schließt, ein Sinnspruch, an den sich ja bereitwillig geklammert wird, wenn man erstmal aus dem Garten Eden vertrieben und von den unvermeidbaren Unbilden des Lebens schon ein wenig zerschunden im Vorgarten der Verzweiflung angekommen ist und um einen herum nirgends ein tieferer Sinn aus dem kargen Erdreich zu sprießen scheint.
Eben jener im Schnee gestorbene Freund war es passenderweise auch, der seinem maturierenden Sohne einst auf die Frage, ob das Leben denn irgendeinen Sinn habe, die ebenso ernüchternde wie ehrliche Antwort gab, dass der Sinn des Lebens im Leben selbst bestünde, was den Filius erst wie besessen ins Pianospiel, dann nach Passau und schließlich in eine psychiatrische Klinik flüchten ließ (was der Vater größtenteils nicht mehr mitbekam und sich wahrscheinlich auch nicht auf dieselbe Weise zugetragen hätte, wenn er noch weiter unter den Lebenden geblieben wäre).
Ständig öffnen oder schließen sich alle möglichen Türen (manchmal bekommt man’s leider erst zeitversetzt oder gar nicht mit), und auch hier spielt einem die Erinnerung nicht selten einen Streich, was die nachträgliche Bewertung angeht.
Fünf Jahre nach dem Tod von N. sortiere ich also heute jene Ecke auf meiner Lebenssouvenirpinnwand, die mit Bildern aus der Zeit, in der wir einander kannten, bestückt ist, plötzlich neu (um nicht zu sagen: ich miste dort gründlich aus). Fünf Jahre hat es gedauert, um zu erkennen, dass da manche Erinnerung in einem vergoldeten Rahmen hing, obwohl ein schlichter Cliprahmen angemessener gewesen wäre. Und dass das eine oder andere Bild arg schief hing, fiel mir, die ich ansonsten sehr genau bin in solchen Dingen, ebenfalls jahrelang nicht auf.
Ist es das Los mancher zu früh aus dem Leben Geschiedenen, dass sie durch ihren so unerwarteten Tod die Nachwelt zu Verklärung und Vergoldung anstiften? Oder war hier abermals der Adjutant der Erinnerung, dieser munter herumstümpernde Innenarchitekt am Werk?
Wie dem auch sei – eigentlich wollte ich anlässlich des heutigen (nun in doppelter Hinsicht) Jahrestages ja nur festhalten, dass ich ein kleines Verdutztsein darüber verspüre, dass es exakt dieses Datum ist, an dem der eine Freund ging und der andere in mein Leben trat, wobei Letzterer binnen eines Jahres ein engerer Freund wurde als Ersterer in einem ganzen Jahrzehnt.
Und ich wollte sagen: Danke, lieber M., für dieses vergangene Jahr, das so reich war an Freude, Ausflügen, Perspektiven, Erlebnissen, Gesprächen, Entdeckungen, Verbundenheit und Kuchenstücken!
Fein geschrieben … was du über Erinnerungen sagst, das kann ich vollkommen nachvollziehen, ja bestätigen!
Alles Gute zum Jahrestag, so und so.
Herzliche Morgengrüße vom Lu
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Danke, lieber Lu, herzliche Morgengrüße zurück!
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🌟🌟🌟
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Ich habe eine gute Freundin, die mir jedesmal mit den Worten „Mann (hier folgt mein Nachname)! Komm zum Punkt!“ ins Wort fällt, wenn ich ausschweifend berichte, weil ich finde, dass dieses und jenes Detail zur Geschichte gehört, um sie so zu verstehen, wie ich sie erlebt habe. Das hätte sie hier nach drei Sätzen vermutlich auch gesagt… mir gefiel es deshalb natürlich sehr, wie Du ausholtest, Schwünge zogst und uns an Deiner Pinnwand teilhaben ließest.
Wäre ich M., würde ich nun verlegen, aber sehr erfreut meine Wimpern samt Lid nach unten klappen und in mich hinein strahlen angesichts dieser schönen Laudatio!
Hab einen schönen Tag…
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Ich glaube, ich weiß, was du meinst! Weil ich das kenne (tja, natürlich)!
Wahrscheinlich habe ich mich unbewusst wegen eines Traumas aus Schulzeiten vor einigen Jahren zum Bloggen entschlossen: Zu Beginn meiner zwei Deutsch-LK-Jahre schrieb mir die von mir sehr geschätzte Lehrerin einen Kommentar unter meine ellenlange (aber großartige) Abhandlung zu Schillers „Don Carlos“, in der sie einerseits meine treffende und kreative Analyse lobte, andererseits aber „eine leichte Neigung zur Redundanz“ konstatierte. Das hat mich seinerzeit schwer getroffen und verfolgte mich zwei Jahre lang bei jeder Klausur und gipfelte schließlich in einem mehrstündigen Schweißausbruch während der Abiturprüfung, in der nämlich ausgerechnet mein Wunschthema (Faust: Vergleich zweier zentraler Gretchenszenen) drankam, bei dem es mir ganz besonders schwerfiel, mich kurz zu fassen bzw. „auf den Punkt zu kommen“, und ich möchte bis heute behaupten, dass die Bewertung dieses Aufsatzes (und somit meine gesamte Abiturnote) noch besser hätte ausfallen können, wenn mir nicht diese Redundanz-Warnung im Nacken gesessen wäre und ständig zugezischt hätte „Schweif nicht ab! Komm zur Sache!“. Dann hätte ich Jura studiert oder Medizin und wohnte nun in einem Haus am See, mit Steg und Boot, und würde von meinen Aktiengewinnen leben und jetzt, zur Morgenstunde, in der ich mit meinem Zweitkaffee im Wintergarten säße und über die Süddeutsche hinweg auf den See hinausguckte, den Gärtner zu mir rufen und ihn bitten, mir doch eine Schneise in den zugefrorenen See zu fräsen, damit ich dort Schwimmen könnte. Mein Leben wäre ein gänzlich anderes geworden, hätte ich als Heranwachsende die Kurve gekriegt und mich in Kurzfassungen geübt, aber dieser Zug ist nun, wie so viele andere auch, wohl abgefahren und deshalb schwafel ich einfach so lang vor mich hin, wie mir der Sinn grad danach steht und freu mich, dass es Menschen gibt, denen das auch noch zusagt.
Dir auch einen schönen Tag, liebe Birgit!
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ooooh – irgendwieirgendwo, in einem der zahllosen paralleluniversen, ist es so, genau so – also: wintergarten, süddeutsche, zweitkaffee, see, gärtner, schneise, winterschwimm … und für’s fräulein ein passend beheizter kleiner pool …
genüsslich hier lesend grüßt
pega
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Wenn du das sagst…!
Genüsslich hier sitzend grüßt und dankt
Natascha
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Das Leben, Abschied nehmen und Begrüßen wunderbar geschwurbelt. Schon wenn ich nur durch die Straße eines bereits gegangenen besten Freundes fahre, Grüße ich hoch zu seiner Wohnung und habe dann mit Erinnerungen noch eine Stunde aktiv zu tun.
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„Geschwurbelt“ ist zwar eine Vokabel, bei der sich mir coronabedingt alle Nackenhaare aufstellen (derer ich momentan reichlich habe, weil der Friseur ja geschlossen hat), aber ich nehme deinen Kommentar so insgesamt mal als Lob…
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Hach… Deine Antwort nehme ich direkt zu den Beweisstücken! 😄
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Das war zu erwarten 😉
Sei’s drum!
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Liebe Natascha,
eine aboslut lesenswerte Abhandlung zum Thema Erinnerungen, und Deine Bildersprache ist einfach ein Genuß … danke für dieses Lesevergnügen!
Ich komm‘ mal wieder nicht umhin, Wolfgang Niedecken zu zitieren, der das ganze in nur zwei Songzeilen auf den Punkt brachte – die er gleich in zwei Songs verwendete, da der erste leider wegen Überlänge der Band-Demokratie zum Opfer fiel und dann glücklicherweise zum Herzstück seines ersten Soloalbums wurde:
„Weil die Erinnerung miehstens Falle stellt, die jolden ussjeschmöck
met dämm, wat ein’jermaßen okay wohr, dat andre blieht verstöbb.“
Liebe Grüße aus dem Home-Office!
Spike
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Lieber Spike,
ich habe natürlich sofort gecheckt, dass dein Kommentar eine Denksportaufgabe enthielt (die kleine Rache für die Hunde, die ich nie fand, aber auch nie suchte?) – daher auch meine späte Reaktion 😉 – und versucht, die beiden Songs zu finden, kam aber schließlich zu dem Ergebnis, dass einer der beiden nicht nur der Band-Demokratie zum Opfer fiel, sondern garnie veröffentlicht oder erwähnt wurde und nur von Insidern gekannt (erinnert) wird, richtig? Der andere, leicht auffindbare Song ist jedenfalls schön, und besonders berührt hat mich in dem Videoclip aus seinem Erscheinungsjahr, wie süß (und jung) er da ausschaut…
Liebe Grüße vom Frühstückstisch!
Natascha
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Liebe Natascha,
Deiner Antwort entnehme ich, daß Du nur die ’86 BAP-Single „Bunte Trümmer“ gefunden hast. Und da war der blutjunge Niedecken schon 35 und stand vor den Trümmern seiner ersten Ehe. Ein kleiner Fallstrick mag sein, daß der Zeilenanfang leicht unterschiedlich ist – die Zeile stammt original aus „Nie met Aljebra“, das 1987 auf dem Wolfgang Niedecken & Complizen Album „Schlagzeiten“ erschien und mit über 9 Minuten der Band BAP und dem Produzenten Mack – der im gleichen Jahr „A Kind of Magic“ von Queen produzierte, was man der BAP-Scheibe anhört – einfach zu lang und wortgewaltig (oder einschläfernd?) war … einer der ganz wenigen Solo-Songs, die nie von BAP gespielt wurden, weder live noch im Studio … also für BAP-Fans ist eine Live-Performance dieses Songs ähnlich erhebend, wie „Jungleland“ und „Backstreets“ für Bruce-Fans … ich konnte ihn live bei Konzerten mit der WDR-Bigband 2011 und bei der Biografie-Lesetour 2011/12 erleben … nie aber im Original-Arrangement von 1987 …
… und nein, kein Denksport – eigentlich wollte ich nur Deine Leserschaft nicht mit zu vielen Details zu den Songs langweilen – was ich hiermit nun doch noch tat … 😉
Liebe Grüße aus der winterlich weißen Ortenau!
Spike
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Na wusste ich’s doch, dass du auch ne Langversion parat hast 😉
Danke dir fürs Nachreichen!
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