Gehört Gelaufen Geplant Gesehen Getan Geträumt

Von Pandemie-Pornos und anderen Träumen.

Die Technik läuft wieder.
Und auch ich laufe noch: tagein tagaus bin ich mit dem Fräulein anderthalb bis zwei Stunden unterwegs, so gut es geht im Wechsel zwischen den gewohnten städtischen Routen und ländlichem Lustwandeln auf neuen Wegen, ab und an gönnen wir uns auch eine winterliche Bergtour.
Man kriegt ja sonst einen Knall, wenn man immerzu die gleichen Kulissen sieht. Das war schon vor Corona so, hat sich aber irgendwie noch intensiviert, vielleicht weil Verreisen und manch Anderes momentan flachfällt.

Ausnahmsweise mal am Wochenende einen Ausritt ins Umland unternommen, üblicherweise vermeiden wir das ja, weil die Lebens- und Arbeitssituation es uns erlaubt, auch uu weniger frequentierten Zeiten auszufliegen.
Seit Tagen war mir schon danach, des Schädels Ort aufzusuchen, den Calvariae locus zu Bad Tölz, weil ich da nämlich noch nie war, was ziemlich absurd ist, wenn man bedenkt, wie oft ich bereits unmittelbar in dessen Nähe war.

Pandemie-Proviant: Alles dabei für Hund & Mensch.

Dieser Kalvarienberg lässt sich recht bequem und dackelrückenfreundlich, d.h. treppenfrei erklimmen und noch dazu mit einer schönen, ausschweifenden Spaziertour drumherum verbinden: Isarstausee, Wiesen, Wälder, Uferpromenaden, der malerische Stadtkern von Tölz – und eben die vielen verschlungenen Wege rund um die kleine Nachbildung Golgathas selbst.

Animiert hatte mich zu diesem Ausflug eine TV-Sendung, die das Tölzer Land und den Isarwinkel mal nicht nur von seiner Schokoladenseite zeigt, jener, die man als Städter so gern sieht bzw. sehen möchte: der ungezähmte Gebirgsfluss, der kanadisch anmutende Stausee, die wunderschöne Bergwelt, die (aktuell zur bloßen Erinnerung zerronnenen) Hütten und Almen, auf denen man einzukehren pflegt(e). Stattdessen wirft der Beitrag einen Blick (und ein Ohr!) auf die Einheimischen, auf ihre Sitten und Bräuche, auf Sprache, Speisen, Kultur und Tradition, wie sie im Oberland gepflegt wird.
Diese Einblicke dürften so manch einem Städter, der verklärt das Voralpenland durchstreift, den Zahn ziehen: ob man dort als Zugroaster leicht Fuß fassen und wirklich Anschluss finden würde (außer zu anderen Stadtflüchtlingen oder Zweitwohnungsbesitzern), darf stark bezweifelt werden. Ohne Zither, Ziehharmonika oder Zugehörigkeit zu irgendeinem Verein geht hier nämlich gar nix (do dad da Stodara mid am Ofarohr, weil er koan gscheidn Zuaba-Ziager ned hod, schee bled ins Gebirg einischaugn, des sog i Eana).

Jedenfalls steht die etwas hasenzähnige, aber durchaus nicht unsympathische Moderatorin Susi (die wo den Zuschauer durch den Film begleiten und dabei einen Dialekt sprechen tut, dass es nur so kracht) in dieser sehenswerten (weil informativen und geradezu aufklärerischen) Reportage mehrfach mit ein paar ortstypischen Mannsbildern von der Tölzer Stadtkapelle auf der Aussichtsterrasse des Kalvarienbergs, zwischen Leonhardikapelle und barocker Kreuzkirche, und schaut hinab ins schöne Isartal oder hinüber ins Karwendelgebirge – und das war natürlich der Moment, der für mich den Ausschlag gab und zu dem Beschluss führte: Da musst du dringend auch mal hin (und zwar gern ohne die Jungs vom Blasorchester)!

Auf Nebenwegen pirschen das Dackelfräulein und ich uns an, denn in Zeiten wie diesen kann man an Wochenendtagen, selbst wenn sie noch so grau und verhangen sind wie der vergangene Samstag, den wir just wegen seiner Grauheit für diesen Ausflug auserkoren hatten, auf Hauptwegen sein pandemieplebejisches und aerosoles Wunder erleben. Leider gilt das zwischenzeitlich auch immer häufiger für vormals völlig trubelfreie Trampelpfade. Dank des Abstandwahrens und Langsamgehens bemerke ich eine Infotafel, die ich andernfalls vielleicht übersehen hätte, wenn wir im Stechschritt dem „Gipfel“ entgegengeeilt wären, und die mein Heimatwissen um ein weiteres Filetstückchen ergänzt: Thomas Mann ist hier mal den verschneiten Hang hinabgerodelt, potztausend!

Das architektonische Ensemble auf dem „Berg“ hätte wahrlich eine ausgiebigere Betrachtung verdient, doch die gut zwei Dutzend Personen da heroben – jede von ihnen aussstaffiert mit Travel-Mug, Togo-Sweets & Smartphone (manch eine zusätzlich noch mit Hund/Kind/Partner/Gehhilfe an/in der Hand) – bewirken, dass ich meinen Krapfen und Tee erst in einem menschenleeren Hinterhof unten im Städtchen zu mir nehme. Auch dort wieder: Thomas Mann (ich muss spontan an einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung denken, viele Jahre ist’s her, den mir der äußerst betagte, gebildete und sprachlich hochinteressierte Nachbar und Freund, Gott hab ihn selig, seinerzeit mit einer Mischung aus Amüsement und Entsetzen, in seiner Altherrenrecamiere sitzend und unter Zuhilfenahme seiner beleuchteten Leselupe vorlas und dazu meine Meinung hören wollte).

Wir werden uns den Kalvarienberg jedenfalls nochmal wochentags und bei besserer Witterung zu Gemüte führen, uns dann eine Bank suchen, auf der wir in Ruhe sitzen, den Proviant genießen und uns mit Blick auf das Vorkarwendel bis nach Österreich hineinträumen können, mindestens tief in die verschneiten Flanken des Juifen, dessen Aussprache noch immer nicht so flutscht wie sie sollte (im 14. Jahrhundert hieß der Berg noch Jeufenspitz und man fragt sich, warum eine Umbenennung nötig war).

Am späten Nachmittag auf der Heimfahrt ganz erfüllt von all den neuen und den wohlvertrauten Impressionen, dennoch innerlich klar, dass die Option „Landleben“ gründlichster Abwägung bedarf. In regelmäßigen Abständen (ausgelöst z.B. durch Wasserschäden, Bauarbeiten, Vermieterkontakt, Schädlingsbefall, Nachbarschaftliches etc.) ertappt man sich ja bei der Überlegung, dem deprimierenden Mieterdasein der teuren Großstadt zu entfliehen und anderswo sein Glück zu suchen versuchen finden, mit besserer Luft und mehr Natur- resp. Bergnähe.
Die Stadt jedoch hat auch viele Vorzüge, selbst wenn momentan etliche davon nicht zugänglich sind. Eines Tages werden sie es wieder sein, obwohl der Impfterminrechner im Netz mir als persönliche Prognose ein Datum im Frühjahr 2022 (!) auswirft, offenbr unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich bei „Autoimmunerkrankungen“ ein fettes Häkchen gesetzt hatte.

Als ich zurück in München aus dem Luki-Tunnel herausfahre, ist das Grau des Himmels und jenes des Asphalts exakt dasselbe, übergangslos verbinden sich die beiden Sphären in der einsetzenden Dämmerung zu einer großen Leinwand, ganz im Norden ragt der Olympiaturm wie eine Kompassnadel auf, im Westen erstrahlen die oberen Bürohochhaus-Etagen des ehemaligen Arbeitgebers im Türkisgrün des Firmenlogos und im Rückspiegel sehe ich noch die roten Signallichter der Tunnelinnenwände flackern – ein visueller Gesamteindruck, der mich (warum auch immer) in dem Moment emotional total erwischt (möglicherweise ist diese Aufwallung auch dem Song geschuldet, der gerade läuft, oder zumindest davon verstärkt: „It’s lonely out in space / On such a timeless flight / And I think it’s gonna be a long, long time…„).

Sonntags ziehe ich alleine meine Laufrunden durch den nahegelegenen Park und träume anschließend im warmen Wannenwasser von Zeiten, in denen ich von den derzeit drei absolvierten Läufen pro Woche mindestens zwei zugunsten der Ausübung des geliebten Schwimmsports wieder gestrichen haben werde.
Weil mir die Bewegung im Wasser tatsächlich nach dreieinhalb Monaten so furchtbar fehlt, träume ich neuerdings auch nachts vom Schwimmen, allerdings nicht mit mir in der Hauptrolle, sondern mit richtigen Helden, die ungefähr so aussehen:

Vermutlich liegt das daran, dass ich mit dem hübsch Bewimperten in letzter Zeit zu viele Fotos von Eisschwimmern begutachtet und durchdiskutiert habe (Mütze/Vollbart: ja oder nein, Brusthaar/Muskulatur: wie viel ist zu viel usw.). Diese pandemische Pseudoalternative zum Schwimmen wird ja derzeit von allen Zeitungen gefeiert und mit ihr die Tapferen, die diese Sportart, die keine ist, ausüben. Mit Wassersport hat es schließlich nicht das Geringste zu tun, wenn sich jemand überwindet, bei Minusgraden in Badehose oder Bikini in Isar/Eisbach/Tümpel/See zu steigen (oder gar zuvor die Eisfläche des Teichs aufzumeißeln, um sich ein Einstiegsloch zu schaffen), dort ein paar Atem- oder sogar Schwimmzüge zu machen, ein bis zwei Minuten später rot und gekrümmt wie eine Krakauer wieder herauszukommen und hernach auch noch steif (sic!) und fest zu behaupten, sich wie neugeboren zu fühlen.
Naja, erfrischend mag das wohl sein, ohnehin vergönne ich jedem das Seine – und gottseidank widmet sich die Presse ja auch noch anderen, nicht minder relevanten Themen, um den Lockdown etwas aufzulockern.

Wo die Dackeldichte am höchsten ist, wird allerdings erst noch verraten, wo es die besten Krapfen gibt, wusste ich schon vorher und von der Schmerzsache wird hier im Blog bei Gelegenheit noch zu schreiben sein, nun, da ich diese Pein wahrscheinlich in absehbarer Zeit hinter mir habe.

Der Lieblingskonditor wird die diesjährige Krapfensaison übrigens entgegen der Tradition über den Aschermittwoch hinaus verlängern, wie ich heute zu meiner großen Freude erfuhr.
Die Nachfrage nach dem süßen Siedegebäck steigt momentan täglich, die Konditorin und ihre Crew stehen nun um 3 Uhr statt um 4 Uhr auf, um den Bedarf einigermaßen decken zu können, weshalb ich sicherheitshalber für morgen eine Reservierung vorgenommen habe, da ich eine Unterbrechung meiner äußerst erfolgreichen Hopfen-und-Krapfen-Diät jetzt auf gar keinen Fall gebrauchen kann (habe mir erst gestern eine neue Jeans bestellt).

Ebenfalls zu meiner großen Freude dieser Tage:
Eine überraschende Postsendung, bei der mich Umverpackung und Inhalt nahezu gleichermaßen begeisterten sowie eine Meldung im Info-Display des Cockpits, die mir eine vernünftige Kaufentscheidung oder Fahrweise (oder beides) bescheinigte.

Soweit für heute. Kommen Sie gut durch die Woche und lassen Sie sich nicht unterkriegen – von Schneemassen, Hochwasser, Kalorienbomben, Arbeitsbergen, Budenkoller, Februarfrust oder wovon auch immer Sie gerade am heftigsten heimgesucht werden.

11 Kommentare zu “Von Pandemie-Pornos und anderen Träumen.

  1. Der Phoenix Chamber Choir aus Kanada hat hier eine schöne Corona-Covid-Version von „For the longest time“ (Billy Joel):
    https://phoenixchoir.com/albums
    Gute Tage und Zeiten!

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    • Danke für den Link, lieber Bernd, Billy Joel hat großartige Lieder geschrieben, ich nehme an der von mir zitierte Songtextschnipsel (der allerdings aus der Feder von Sir Elton John stammt) inspirierte dich dazu?
      Dir auch gute Tage & Zeiten!

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  2. Ich konnte leider nirgends finden, wie Juifen korrekt ausgesprochen wird, und vermute, daß die meisten deutschsprachigen Menschen eh so sprechen, daß es mehr oder weniger wie Jeufen klingt.
    Eine gewisse Dialektik geht mir nicht ab, und ich verstehe ja einiges, aber bei „Zuaba-Ziager“ haben mich die Fähigkeiten verlassen. Da hätte ich einen „Zuber-Zieher“ vermutet, der aber nicht in den Sinn des Kontextes zu passen scheint. Ich bitte höflichst um Aufklärung.
    Von der französischen Saar, wo es viele dackelfreundliche Wanderwege gibt, herzliche Grüße.

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    • Nein, die meisten würden es wohl, so ließ ich mir sagen, eher analog der Insel Juist aussprechen:“Jühst“ [jyːst], d.h. „Jüfen“, aber die Bewohner des Isarwinkels (und vermutlich die Mehrheit der dialektsprechenden Oberbayern sagen „Jeufen“, ich hielt mich bislang zurück und sagte „der Fast-2000er da drüben in Tirol“.
      Auch über den Zuaba-Ziaga gehen die Meinungen auseinander, ich fand ihn überwiegend in der Bedeutung „Fernglas“.
      Herzliche Grüße aus München!

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      • Ach ja, das ui wie in Duisburg… Das hatte ich vergessen.
        Einen Namen, den fast alle, sogar aus der Nähe, falsch sprechen, kenne ich auch: Gérardmer in den Vogesen. Fast alle sehen da „mer“, und sprechen es so (wie dt. Mär), aber richtig ist -mee. Eine böse Falle für Touristen.
        Mit dem Wissen um den Zuaba-Ziaga erschließt sich mir jetzt der Sinn.

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  3. 4,5 Liter auf 100 km ist schon eine Öko-Ansage da kommt kein Elektro-Stromer mit die Energie muss ja auch irgendwo erzeugt werden. Eisbaden ein Kreisrundes Einstiegsloch mit der Kettensäge schneiden und hineinspringen, abtauchen und hinterher den Ausgang wieder finden wäre eine ganz neue Sportart. Die Robben machen das, sagt man… Grüsse aus dem zugefrorenen Berlin

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    • Gute Idee, das mit dem Abtauchen und Ausgang-Wiederfinden ;-), ich überlasse auch hier gern den weniger Verfrorenen den Vortritt.
      Grüße aus dem schon wieder verschneiten München!

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      • Jetzt habe ich ein schlechte Gewissen – heute haben das von mir Beschriebene drei Männer im Karpfenteich (Treptower Park, Berlin) versucht. Zwei konnten gerettet werden – einer kam unters Eis und wurde erst nach zwei Stunden gefunden. Bitte nicht nachmachen!!!

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  4. Zu viel Brusthaar ist schwerlich denkbar, was natürlich überwiegend reine Geschmackssache ist, somit vielleicht doch denkbar.

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    • Da bin ich ganz bei Ihnen, um es getreu Punkt 7 Ihrer Liste auszudrücken.
      Wobei ich ergänzen möchte, dass sich mir manch rauer Gedanke, der sich mit einer simplen Schur glätten ließe, erst gar nicht mehr aufdrängt.

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  5. Pingback: Song des Tages (65), für D. | Kraulquappe

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