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Himmel der Bayern (92): Eine etwa vierstündige Rast erhält die Kräfte ungemein.

Vorgestern, am Tegernsee. Zwischen Einkäufen, Küchenarbeiten, Abendessen und einem thematischen Potpourri, das von Treppenlifteinbau über Pflegestufenbeantragung bis hin zu Seniorenresidenzwartelisten reichte (die Stimmung des Papas dabei erstaunlich gelassen, ja vielleicht beinahe froh, dass ich das alles ganz direkt anspreche, nicht drumherum rede und mir Notizen mache, was wann und vor allem von wem zu tun sei), wackelt der Papa zum Sekretär, um aus der obersten Schublade ein zerfleddertes kleines Büchlein hervorzuholen. Trägt es zum Esstisch, legt es mir mit seiner leicht zitternden rechten Hand hin und sagt: „Guck mal, ich miste ja immer noch aus, und bei dem hier dachte ich an dich und ob du das vielleicht haben magst.
Seine Stimme spricht keine Fragezeichen mehr, auch keine Ausrufezeichen, sie hebt und senkt sich nur noch selten, ihre Amplitude ist ebenso in sich zusammengeschrumpft wie der gesamte stattliche und starke Mensch, der er früher mal war. Ich blicke auf den abgewetzten, kastanienbraunen Ledereinband, drauf steht in Goldlettern: „Meyers Reisebücher. DEUTSCHE ALPEN. Erster Teil.“
Die Ursprünge und Grundlagen meiner Bergliebe habe ich ja dem Papa zu verdanken, so wie die Dackel- und Heimatliebe wohl auch, also ergreift mich sogleich große Rührung als ich die mufflige Kladde aus dem Jahre 1886 aufklappe und das Vorwort zu lesen beginne: „Leicht Gepäck ist eine der Vorbedingungen für eine angenehme Reise, besonders im Gebirge.“ – so lautet der erste Satz. Wie wahr!, denke ich, und: Wie sehr das doch auch jenseits des Gebirges zutrifft.

Später am Abend, wir alle sind etwas erschöpft vom mentalen und verbalen Herumwuchten schweren Gepäcks, konkret: vom Um- und Einkreisen der vorletzten Dinge und dem schließlich vorsichtig geäußerten Beschluss, dass eine Übersiedelung vom Haus in eine Seniorenresidenz (der Begriff Altenheim kommt keinem über die Lippen, Pflegeeinrichtung schon gar nicht) sinnvollerweise in nicht mehr allzu ferner Zukunft anstünde („so lange wir das noch selbst entscheiden können“ sagt die Lebensgefährtin, der Papa hingegen fasst es unter „so lange ich meinen letzten Koffer noch alleine packen kann“ zusammen), sitzen still und müde in den Sesseln, jeder mit seinem lauen Getränkerest und seinen ungeäußerten Gedanken beschäftigt, schlage ich das Alpen-Büchlein erneut auf.
In dem einleitenden Kapitel „Einige Wander-Regeln“ findet sich unter anderem die wunderbare Weisung: „Das Gehen in der Mittagswärme ist unangenehm, eine etwa vierstündige Rast (11-3 Uhr) erhält die Kräfte ungemein.“ .

Am darauffolgenden Tage probieren wir das gleich mal aus – und rasten während der Mittagswärme. Gelingt uns auf Anhieb. Sehr gut sogar.
Ich lasse mich auf einer Bank am See nieder, deren Standort ich in Zeiten wie diesen lieber nicht verraten möchte, das Fräulein schnorchelt im Flachwasser herum und ruht nach dem Bade im sonnigen Strandkies (kaum zu glauben: grad mal zwei Monate nach Weihnachten und der Hund nimmt schon ein erstes Frühlingsbad!).
Dank des Krapfens genügt auch eine anderhalbstündige Rast, um die Kräfte zu erhalten bzw. wiederherzustellen (außerdem hat man ja auch noch was anderes zu tun), den Durstlöschhinweis aus Meyers Reisebuch beherzige ich wohlweislich nicht („Wer empfindlich beim Kaltwassertrinken ist, vermische das Wasser im Lederbecher mit etwas Kognak aus der Feldflasche.“ ), denn so in der prallen Sonne sitzend würde das die eben erst erhaltene Kraft womöglich wieder gefährden, außerdem besitze ich keine Feldflasche, sondern nur so ein neumodisches Aludings (wenngleich solides Schweizer Fabrikat).

Der frisch vererbte Schmöker geleitet mich quer durchs bayrische Hochland, ausführlicher widme ich mich dem Isarthale, der Region Tegernsee-Schliersee sowie der Gegend, in der ich gerade raste.
Ich erfahre, dass das Schloss, an dem ich just vorbeispazierte, damals keine ferienfreizeitwütigen Protestantenfamilien beherbergte, sondern dem Grafen Ferdinand von Rambaldi gehörte, der dort residierte, wann immer es seine Amtsgeschäfte als königlicher Regierungsrat in München zuließen. Absurderweise besaß der Herr Graf nur einen Steinwurf vom seinem Schloss entfernt noch ein Sommerhaus (auch jenes nicht gerade winzig und ebenfalls mit herrlichem Seeblick), um sich, wie es heißt, „dem turbulenten Treiben der Schloßanlage entziehen zu können“ .
Wie beneidenswert, wenn man binnen weniger Minuten von einer Ruheoase zur nächsten schlendern kann!
Man selbst ist ja heutzutage schon heilfroh, wenn man an dem fast gänzlich von Privatbesitztümern zugepflasterten Ufer irgendwo ein Loch in einem Zaun entdeckt, hindurchzuschlüpfen wagt, um dann klammheimlich kostbare 90 Minuten vor einem verspinnwebten Bootshaus zu verbringen. Freilich geht das eh nur, weil Februar ist und es außer ein paar Hunden noch niemanden ins Wasser drängt.

Vor mir der See, hinter mir das Bootshaus, mit einer beachtlichen Bevorratung an Poolnudeln und anderem Schwimmzubehör, linkerhand eine blau leuchtende Badeinsel, zu meiner Rechten der einladende Holzsteg, mit kleiner Stiege hinab ins schmerzlich vermisste Element.
Ich lege das Buch beiseite und google zum ichweißnichtwievielten Male nach Neoprenanzügen. Wie immer überfordert mich das nach wenigen Minuten und beschert mir dasselbe Gefühl, das mich früher stets in Kaufhäusern (Sie erinnern sich? – diese mehrstöckigen Konsumtempel, die Sie einst aufsuchten, wenn Sie das Haus verließen, um mal etwas anderes als nur Lebensmittel oder Klopapier zu besorgen…) befiel: ein Zuviel an Angebot sowie ein Zuwenig an Kenntnis oder Wollen radierte schon nach kurzer Verweildauer jede Kauflust in mir schlagartig aus – ich will dann gar nichts mehr (außer raus aus dem Laden und sofort meine Ruhe).

So knöpfe ich mir abermals Meyers Reisebuch vor, streife durch die Kapitel über Garmisch und Mittenwald (staune, dass das Karwendel früher Karwändel hieß und dass der Oberbayer als ein Menschenschlag geschildert wird, der sich „durch Biedersinn und Ehrlichkeit“ sowie „durch kernhaftes Wesen, Kraft, Humor und Phantasie“ ausgezeichnet haben soll) und bleibe schließlich bei „Ratschläge für bergsteigende Damen“ hängen, die ich Ihnen hier keinesfalls vorenthalten möchte:

Das Haupterfordernis für bergsteigenden Damen ist zunächst ein fester Bergschuh (…). Beim Maßnehmen dieser Schuhe ist darauf zu achten, daß beide mit starken Strümpfen bekleidete Füße fest auf der Erde stehen und nicht, wie meistens der Fall, frei in der Luft hängen. Man trete die Schuhe zu Hause ein und lasse sie erst im Gebirge nageln.
Besonderes Gewicht ist darauf zu legen, daß der Körper als erste Bekleidung nur Wolle erhält. Von dunklem, nicht zu schwerem Wollstoff angefertigte weite Beinkleider und darüber ohne Jupons das Kleid von dunklem Wollstoff, welches derart einzurichten ist (durch Aufknöpfen), daß es (bei Touren) entsprechend kurz oder lang gemacht werden kann. Der Stoff zum Kleid muss ein dauerhafter englischer Wollstoff sein.

(…) Ein warmes Plaid ist unerläßlich bei der Rast auf dem Gipfel, auch ein kleines Tuch für den Hals ist sehr erwünscht, wildlederne Handschuhe sind vortrefflich. Als Kopfbedeckung für in unbewaldetes Gebirge führende Touren diene ein starker Strohhut, der innen warm gefüttert ist, und dessen nach unten gehende Ränder das Gesicht schützen. Ein blauer Schleier ist unerlässlich.

Und 135 Jahre später ist das Einzige, was davon noch geblieben ist, der robuste Stiefel und bei der Oberbekleidung (heute Funktionswäsche oder Baselayer genannt) ein Merinoanteil von bestenfalls 70%.
Tja. The Times They Are A-Changin‘ .

Es ist das vollkommen Zweckfreie und ganz und gar Gegenwartsferne dieser Lektüre, das mir in der Seele so gut tut bei dieser Mittagsrast am Tag nach dem Ausflug in die geriatrischen Gefilde.

Mit Spaziergang, An- und Abfahrt habe ich es dann übrigens doch noch auf die empfohlenen vier Stunden gebracht, wenn man „Rast“ mal in einem weiteren Sinne fassen möchte: nämlich als „Absenz von Alltag“ .

7 Kommentare zu “Himmel der Bayern (92): Eine etwa vierstündige Rast erhält die Kräfte ungemein.

  1. ach, schön, die zitate, die ratschläge auch für bergwandernde damen … 👍🙂💕

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  2. Sehr erheiternder Text, mit Zitaten aus einem alten Bergbuch, die das Herz erfreuen.
    Herzliche Morgengrüße vom Lu

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  3. Ein kleines Flachwasser-Training der Kraulquappe hätte ich schon erwartet. So ein Sommerhaus, mit beigefügter Literatur, bräuchte ich auch.

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  4. … und nächstesmal bestellst Du vorab telegraphisch bei einem Tegernseer Wirt ein Fuhrwerk an den Bahnhof Gmund? 😉
    Wie sind denn die Bahnfahrpreise im Vergleich 1886 und heute?
    Tolle Lektüre auf jeden Fall … interessante Perspektive von vor 135 Jahren … erinnert mich an das Königlich Bayerische Amtsgericht, das in Kindertagen im Vorabendprogramm lief …

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  5. Herrlich, deine kontemplative Wanderung. Über die Zitate aus dem alten Wanderschmöker musste ich schmunzeln. Warum wohl der Schleier unbedingt blau sein musste?

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  6. Pingback: But it’s so hard to dance that way when it’s cold and there’s no music. | Kraulquappe

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