Das momentan dominierende Gefühl, ein Umbruch (oder Aufbruch?) stünde bevor (oder bahne sich zumindest an?), ist womöglich nichts weiter als eine meteorologisch, familiär, hormonell und prä-postpandemisch indizierte, episodenhafte Wirrnis im Oberstübchen.
Oder 7x Schwimmen in 16 Tagen war irgendwie zu viel des Guten, was zu glauben mir zwar widerstrebt, ganz auszuschließen ist es aber nicht.
Jedenfalls fühlt es sich an, als würde sich parallel zu all den sich derzeit im Wochentakt vollziehenden Öffnungen da draußen zusehends auch mein Horizont öffnen: wo monatelang eine Art Enge herrschte, kehrt allmählich wieder Weite zurück.
Dinge, Ideen, Aktivitäten und Pläne rücken wieder in den Fokus, an die zu denken in den letzten Monaten ähnlich frustrierend gewesen wäre, wie wenn man sich ständig nur zu Ladenschlusszeiten die Nase am Schaufenster einer Chocolaterie plattdrücken und sich so – durch ziemlich unbefriedigende Betrachtung der Hinterglas-Trüffelkollektionen -, sehenden Auges (!) in einen Zustand psychischer Unterzuckerung manövrieren würde.
Etliches wurde Ende letzten Jahres rigoros in den Bewusstseinskeller verbannt, in die dort neu eröffnete Ecke „Erst wieder anrühren, wenn Sommer und/oder Impfung nahen“ , und auf einmal ist der elend lange Winterschlaf tatsächlich vorbei, die Pollen fliegen wieder und auch die Schmetterlinge und sogar die Lufthansa, eine ganze Woche am Stück überwiegend Sonne und die nächtlichen Hunderunden erstmals ohne Anorak (nebenbei: ich besitze schon lange keine sogenannten Übergangsjacken mehr, nicht nur, weil ich den Begriff so dämlich finde, sondern weil ich dazu übergegangen bin, für die paar läppischen Wochen, den sogenannten Midlayer, wie das jetzt in der Outdoormodebrangsche heißt, also das, was man unter der Jacke, aber eben auch noch nicht auf der nackten Haut trägt, den Außentemperaturen entsprechend zu variieren), und auch am Dackelfräulein merkt man’s, dass der Sommer nun endlich begonnen hat, bei den längeren Ausflügen wird sich in jeden Tümpel gestürzt, der am Wegesrand zu finden ist, zur Not auch in sumpfige Wassergräben an Feldrändern.
Kaum haben der wochenlange Regen und der kalte Wind sich verzupft, sperrt auch schon die Innengastronomie auf, die lebhaften Nachbarskinder sind seit Ferienende gottseidank wieder in ihren Schulen und Kindergärten aufgeräumt, der Akkordeonlehrer meldet sich ebenfalls und schlägt eine Reihe an Nachholterminen der bereits vor Monaten bezahlten Unterrichtsstunden vor und ich bin richtig aufgeregt, als ich die Quetschn in den Koffer wuchte und ins Nachbarviertel fahre (und noch aufgeregter, als ich meine einsam einstudierten Lockdownliedchen zum Besten gebe und endlich Hilfe beim Fingersatz und Zugwechsel bekomme).
In den Münchner Zeitungen sind wieder Veranstaltungshinweise zu lesen (Konzerte!!! – d.h. echte Musik mit echten Menschen, in Echtumgebung) und tageweise wird das dauerpräsente Virus auf den Titelblättern sogar mal von anderen, lebenswichtigen Meldungen verdrängt:

Und nicht bloß der Bartgeier kehrt zurück bzw. macht sich auf zu neuen (oder alten) Horizonten, auch ich schiele ich letzten Mittwoch, als der Gatte und ich aufs grob unterschätzte Osterfeldköpfl hinaufsteigen, viel öfter zum Zugspitzmassiv hinüber als zum benachbarten Estergebirge.
Weit hinten aus dem Tal leuchtet das Wettersteingebirge hervor, eine gezackte Verheißung in Weiß, vor allem, wenn man so aus der Ferne hinguckt.
Als wir schließlich in der Spätnachmittagssonne auf dem Gipfel sitzen und unsere Brote essen, sprech‘ ich’s aus: Dass ich, falls die Knorrhütte ihre Pforten jetzt wieder öffnen darf und der Zustieg nicht mehr nur durch einen schmalen, in die Schneefelder gefrästen Pfad möglich sein sollte, in diesem Sommer da hochzugehen gedenke, ohne Begleitung (denn es gibt so Aktionen, bei denen man besser nur mit sich selbst konfrontiert ist), und freilich nicht nur bis zur Hütte, sondern, wenn man schon mal dort oben ist, tags drauf nochmal weiter, auf die Zugspitze, um die überschaubare Liste jener Dinge, von denen ich mir einbilde, es sei warum auch immer wichtig für mich, dass ich sie getan habe, bevor ich 50 werde oder ins Gras beiße (was hoffentlich nicht allzu nah beieinander liegen möge, denn sonst wird’s knapp mit den noch offenen Punkten) – um also diesen vielleicht etwas verrückten oder vermessenen Lebenswunschzettel (für die jüngeren oder hipperen Leser: Bucket List) um einen seiner Einträge zu erleichtern (wenn Sie wüssten, wie lange und in wie vielen Varianten ich diese Tour schon gedanklich umkreise, immer war irgendwas, weswegen es nicht war oder sein konnte, mich dann stets mit dem Gedanken tröstend, ich hätte ja noch ewig Zeit und ehe man sich’s versieht, ist diese Ewigkeit merklich geschrumpft).
Denn wer weiß, wie lange das körperlich noch gut zu schaffen ist, man hat’s ja grad erst erfahren müssen, dass es sogar auf der Kniescheibe einen Schleimbeutel gibt, der sich entzünden und einen für Wochen ausbremsen kann, und dass die Schultern den Tourenrucksack nicht mehr gern tragen, ist eh schon nichts Neues mehr, und ohnehin ist Prokrastination eine Pest, erst recht im Privaten.
In fünf, sechs Wochen dürfte der Schnee rund um die Hütte geschmolzen sein und das Knie bergaufgehend stabil genug, an der Kondition für die 7 plus 3 Stunden, die für die 22 Kilometer und 2.500 Höhenmeter zu veranschlagen sind, muss noch ein klein wenig gefeilt werden, aber es winkt ja demnächst der erste Kurzurlaub seit letztem Sommer, und der ließe sich mühelos zum moderaten Trainingslager umgestalten (wegen des adäquaten Übungsgeländes drumherum).
Der Gatte nickt und scheint zu verstehen, und er verspricht – wenn ich die Tour denn antreten kann – mich zusammen mit dem Fräulein als Empfangskomitee oben zu erwarten, auch das eine weitere schöne Aussicht, sofern ich die beiden unter den zahlreichen Seilbahntouristen, die, wie man hört, täglich da oben in Scharen und falschem Schuhwerk herumtrampeln, überhaupt finden werde, aber wenn der Handyempfang irgendwo 1a sein sollte, dann ja wohl dort, also werden wir uns schon nicht verpassen (zumindest nicht aus Mobilfunkempfangsmotiven).

Am Tag vor ihrer Öffnung ist die Hütte bereits nahezu ausgebucht, ein Schlafplatz für Juli ist nun reserviert, die Wahl fiel nicht schwer bei nurmehr drei freien Plätzen außerhalb der Wochenenden, zum Geburtstag kann ich mir nun einen wärmeren Schlafsack wünschen und dass die Wege bis dahin weitgehend schneefrei sind, das Wetter mir keinen Strich durch die Rechnung macht und der Geimpfte in der Koje neben mir nicht schnarcht.
Ich fand es schon immer schön, wenn Dinge so überschaubar sind.
Diese Wirrnis im Oberstübchen kommt mir doch sehr bekannt vor, heute Morgen bei der Gartenkaffeerunde gab es einen akuten Anfall, der zur Erstellung einer Liste führte und zum Beschneiden der Haselsträucher am Gartentor, weil ja überall geöffnet wird, also auch das Gartentor, damit der Briefzusteller hindurch kann um das Päckchen von der Pralinenmanufaktur zu bringen. Dies übrigens eine ausdrückliche Empfehlung meinerseits: ein Abonnement bei einer Pralinenmanufaktur lässt lässig und entspannt an Chocolaterie-Schaufenstern vorbeigehen.
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Toller Tipp, Anna! Werde mich umhören, welche Trüffelmanufakturen ein solches Abo anbieten!
Dafür schneidet man doch gern die Haselsträucher, der Bote soll schließlich freie Fahrt haben 🙂
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Goldhelm in Erfurt, liebe oberstübchenverwirrte Kraulquappe… ist sooo zu empfehlen für solcherlei Zwecke.
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ich mag Lebenswunschzettel…
lg wolfgang
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