Zu Wochenbeginn ein Telefonat mit dem Tourismusbüro in Garmisch, um mich über die Hochwasserschäden in der Partnachklamm und den angrenzenden Wanderwegen zu informieren.
Die Wassermassen aus Partnach und Ferchenbach haben Wege unterspült, Befestigungen gelockert, Risse im Fels verursacht – die Klamm ist gesperrt, vom Begehen der Umgebung wird vorerst abgeraten.
Als ich dann noch erfahre, dass Garmisch aufgrund überfluteter Gleise erstmal auch nicht per Bahn erreichbar sein wird und der Schienenersatzverkehr die Fahrtdauer fast verdoppelt, fällt die Entscheidung schließlich sehr leicht, den ersten der Termine für mein Zugspitzvorhaben ad acta zu legen.
Zugegeben, ein bisschen Bedauern mischt sich schon hinein, denn das Wetter hätte hervorragend gepasst und gerade jetzt wäre auch das persönliche Trainingslevel an einem Punkt angelangt gewesen, das mich mit ziemlicher Zuversicht diese Tour hätte angehen lassen, aber Sicherheit geht selbstverständlich vor und auf Biegen und Brechen (heißt: mit Umwegen, Einschränkungen, Änderungen) zieh ich diesen Plan nun keinesfalls durch.

Bei einem Kaffee und einer tröstenden Breze (schauen Sie bitte genau hin: so sieht die perfekte Breze aus, leider kam die Gier der Kamera zuvor, stellen Sie sich das schöne Gebäckstück also links oben einfach unangebissen vor) storniere ich die erste meiner Reservierungen für die Zwischenübernachtung.

Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn sich in den kommenden Wochen keine der sechs anderen Optionen in die Tat umsetzen ließe und es mir alle sieben Chancen verhageln würde und außerdem gibt es ja noch ausreichend Anderes, das der Verwirklichung harrt, zum Träumen taugt und ohne zehnstündige Strapazen machbar ist.

Etliche derer, die derzeit nicht mit Existenziellem zu kämpfen haben (zu denen ich mich auch zählen darf, wofür ich ausgesprochen dankbar bin, und es schon ohne jeden Katastrophenbilderkonsum war), scheinen gerade in einen regelrechten Rausch der Erlebnisnachholung (oder ist das bereits übergegangen ins Erlebnishamstern?) verfallen zu sein.
Die Gastronomie platzt im Rahmen des Erlaubten (und vielerorts auch jenseits davon) aus allen Nähten, die Parkplätze an den beliebten Ausflugszielen sowieso (dank der Lockdownmonate hätte man doch Übung darin, Ziele und Zeiten geschickt zu wählen), in Oberbayern sind bis zum Herbst alle Gästebetten ausgebucht (es sei den Betrieben gegönnt und natürlich versteht man die Nordlichter, dass es sie hierher zieht) und selbst in den Bergen gibt es nun wochentags an den absurdesten Stellen Schlangen (und die Rede ist nicht von Kreuzottern oder Ringelnattern, sondern von Kreuzgeimpften und Ringelsportshirtschnatterern).
An einer seilversicherten Passage (!) bildet sich auf schmalstem Pfad (!) ein Stau vor dem Zugang zur Hüttenterrasse – das hab ich in 30 Bergjahren noch nicht erlebt!
Schnell das Weite gesucht, hinunter zu einer weniger frequentierten Einkehrmöglichkeit, wo man noch in Ruhe rasten kann, die Hüttenwirte kennt (sie haben sich, seit man einander zuletzt live sah, einen Coronahund zugelegt, dürften aber zu denen gehören, die das Tier nicht als Soziallebenentzugsüberbrückungslückenbüßer missbrauchen) und auch die bessere Weißbiersorte anzutreffen ist als oben auf der Schlangenhütte.
Zurück im Tal folgt der momentan alle paar Tage anstehende Besuch beim Papa in der Nobel-Rehaklinik am See.
Diesmal mit einer unangenehmen Überraschung: es gehe ihm hundsmiserabel sagt er, als er mir grußlos die Tür öffnet, und ich zucke sofort zusammen, weil er auch so aussieht und weil es untypisch für ihn ist, sich dermaßen konkret über sein Befinden zu äußern.
Das Programm, das seiner Wiederherstellung bzw. der des Knies dienen soll, überfordere ihn völlig, er habe keine Lust in dieser blöden Gruppe zu turnen, da könne er nicht mithalten, überhaupt wäre er nun wackliger auf den Beinen als vor der OP, das viele Alleinsein hier ginge ihm auf die Nerven, und nein, in das Klinik-Restaurant wolle er auf keinen Fall gehen, da säßen ja nur Alte und Kranke herum, das sei deprimierend, ohnehin setze ihm das alles auch psychisch zu.
Der letzte Zusatz erschreckt mich am meisten, denn Psyche ist etwas, gegen das er sich sein Leben lang vehement verwahrt hatte – dieses ganze Seelenzeugs hatte mit ihm nicht das Geringste zu tun, das war etwas für zu zartbesaitete Zeitgenossen oder für jene, die seiner Ansicht nach eh nicht alle Tassen im Schrank hatten (verfügte ich in der Angelegenheit aktuell über mehr Humor, würde ich glatt schreiben: der Papa hatte bislang keine Psyche, und fragen: wie mag das wohl sein, wenn man die dann im Spätherbst des Lebens unverhofft in einer Rehaklinik trifft?).
Auf der Heimfahrt habe ich dann Psyche. Heftig sogar.
So heftig, dass ich irgendwann die Musik abschalten muss, weil jeder Song von einem Pyrotechniker komponiert zu sein scheint, der diese meine Psyche an allen möglichen und unmöglichen Ecken und Enden in Flammen setzen möchte.
Ich glühe innerlich, Gefühle lodern auf, ich verbrenne mich fast an meinen Gedanken, will aber nicht verkokelt daheim ankommen, rufe den Gatten an und verkünde, bei Ankunft erstmal nichts gefragt werden zu wollen.
Kein Wort zum Papa, keines zu irgendeiner Psyche. Abgemacht? Ja? Gut!
Wozu dann eh keine Zeit geblieben wäre, weil der Feierabendverkehr eine verspätete Heimkehr nach sich zieht und wir sofort auf die Fahrräder springen müssen, um nicht zu spät ins Nachbarviertel zum Auftritt eines Freundes zu kommen.
Genau das Richtige an dem Abend und in der Stimmung: musikalische Improvisationen zu einer kleinen Ausstellung über die Sieben Todsünden.
Das ist so schräg, so inspirierend und so erfrischend anders als alles zuvor Erlebte, dass es eine wahre Wohltat ist.
Erfreulicherweise endet die Woche immerhin äußerlich sehr aufgeräumt: endlich alle Fenster geputzt und wieder etwas Durchblick, auch den Rest der Wohnung gründlich gesäubert (nebenbei: manche Putzphänomene empfinde ich als eng verzahnt mit meiner Psyche – kennen Sie sowas auch? und wenn ja, leiden Sie daran oder hilft Ihnen das? bei mir ist ganz klar Letzteres der Fall!).
Am heutigen Abend werden wir uns mal am allgemeinen Rausch der Erlebnisnachholung beteiligen und suchen zum ersten Mal seit … (? – vergessen!) Monaten das Lieblingskino auf, das gottseidank noch existiert.
Ein dänischer Film, der sich einem urdänischen Thema widmet (dem „Druk„) und den man bestimmt auch sonst gut anschauen kann, weil diese Mikkelsens ja wirklich immer besser aussehen, je älter sie werden (wenn Sie mögen, gucken Sie mal hier in den Trailer rein).

Wer hätte das gedacht, wie aufgeregt man mal sein würde, weil ein Kinoabend bevorsteht?
Therapeutisches Putzen kann auch glücklich machen. Gut als Einstieg eignen sich die Fenster, denn hier ist ja der Schmutz nicht persönlich, sondern umweltbedingt.
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Vortrefflich ausgedrückt. Sehe ich genauso!
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Also der Satz mit den Kreuzottern und Kreuzgeimpften, der hat definitiv Streiflichtpotential.
Ansonsten denke ich gerne an die Zeiten, an denen ich Patienten, die „Psyche“ hatten, die Hinwendung zum Berg empfahl. Also zum Berg der ungebügelten Wäsche, was mir das eine oder andere fassungslose Staunen ob dieser therapeutischen Empfehlung einbrachte.
Und dänische Filme bei akuter „Psyche“: Ein bemerkenswerter Selbstversuch!
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Klasse, das mit der Hinwendung zum „Berg“ und besten Dank für die Streiflichtblumen!
Ich hatte den Zenit der „Psyche“ gestern Abend bereits so weit überschritten, dass der Ausflug in die Dunkelkammer der Dänen desasterfrei über die Bühne ging. Skål !
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Es gibt bestimmte Haushaltstätigkeiten, die ich gerne ausführe, wenn ich „Psyche“ habe. Andere, z.B. das Putzen meiner monumentalen Fenster, machen die Dinge schlimmer. Dem Herrn Papa wünsche ich gute Besserung in jeder Hinsicht. Das wird schon wieder, keine Reha dauert ewig, und die Welt draußen läuft nicht weg.
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So geht es mir auch: manche Hausarbeit säubert die Psyche, andere zieht sie noch mehr in den Morast.
Was den Herrn Vater angeht danke ich für die Wünsche. Das Problem besteht allerdings weniger darin, dass ihm während der Reha-Wochen die Welt wegliefe, sondern eher umgekehrt… Hoffen wir das Beste.
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Ja, man muss das Beste hoffen.
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erlebnishamstern, kreuzgeimpfte, ringelsportshirtschnatterer(Innen …?) – und dann aber noch die soziallebenentzugsüberbrückungslückenbüßerhunde plus kurztrip ins reich der psyche und des putzens … aaah, das ist TOP!
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Viel Spass beim Nachholen und beim Kinoabend! Ich glaube, das mache ich auch bald. Wer weiss, wie lange man darf.
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Danke, genau das dachten wir uns auch: wer weiß, wie lange noch…
Obwohl die Rahmenbedingungen im Kino wirklich vorbildlich gewesen sind.
Guck dir aber unbedingt einen anderen Film an, wenn es womöglich der einzige ist, den du 2021 im Kino anschaust.
Herzliche Grüße in die Schweiz!
(Und lustig, dass auch bei dir am Wochenende Putzen dran war, wenngleich aus anderen Gründen, wie ich las.)
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Pingback: That’s all. – Kraulquappe
Von der Psyche …
mochte ich den alten Text von Aristoteles, Peri Psyche, Über die Seele.
Zweisprachige Ausgaben Griechisch-Deutsch bei Reclam und Meiner, wohlübersetzt und kommentiert.
Gute Wünsche Dir, Deinem Vater und der Hundedame
mit herzlichen Grüßen
Bernd
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