Gegrübelt Gehört Gespürt Gesucht Geträumt Gewundert

The moon rose and stripped the earth to its bone.

(Die Überschrift wurde dem Song „Black Cowboys“ von Bruce Springsteen entnommen.)

In den letzten Wochen gleich zweimal ein Paar Schuhe verlegt.

Das eine fand sich anlässlich einer Suche nach etwas völlig anderem an sehr ungewöhnlicher Stelle im Schrank wieder, das andere blieb neulich, an einem der wenigen halbwegs lauen Sommerabende im Dunkeln unter einem Tisch zurück, weil ich zu abgelenkt war von der Unterhaltung über dem Tisch und der Musik neben dem Tisch („Heute hier, morgen dort“ , ewig nicht mehr gehört, den Hannes Wader).
Solche Schusseligkeiten sind an sich eher untypisch für mich und daher weigere ich mich noch, das als neue Marotte zu betrachten (oder gar als solche zu behandeln und zum Beispiel ab sofort auf Ausflügen mehrere Schuhpaare mitzuführen).

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Ein bisschen unheimlich wurde mir im Schuhkontext allerdings, als ich letztens träumte, dass ich mit dem recht betagten Neurologen des Papas durch eine Art Zen-Garten spazierte, dessen weich bemooste Wege mich animierten, barfuß zu laufen. Ich entledigte mich meiner Schuhe, setzte die nackten Füße genüsslich auf das kühle Moos und ging mit wohligem Gefühl weiter, meine Trekkingschuhe band ich an den Schnürsenkeln zusammen und trug sie locker ums Handgelenk geschlungen mit mir.
Als der Arzt und ich – wir sprachen gerade über das Phänomen der sakkadierten Blickfolge, eine der typischen Begleiterscheinungen der Parkinson-Erkrankung – an einem steinernen Brunnen vorbeikamen, blieben wir – ich glaube, weil er damit rang, einen weiteren Fachterminus vom Kopf zur Kehle zu befördern – kurz stehen, ich nutzte diese Pause und lehnte mich ein wenig über den wulstigen Brunnenrand, um nachzusehen, ob sich in dem grünlich-veralgten Wasser irgendein Leben tummelte.

Just in dem Moment löst der Neurologe mit einem geschickten Griff das Schuhbündel von meinem Handgelenk und schleudert es mit einer Geste kindlichen Übermuts und trotziger Rebellion in den Brunnen.
Fassungslos starre ich erst Dr. R. an und danach in das trübe Wasser.
Sehe, wie meine roten Lowas tiefer und tiefer trudeln, und je mehr sie nach unten sinken, desto weiter beuge ich mich hinunter zur Wasseroberfläche und kneife die Augen zusammen, um irgendwie erkennen zu können, in welche Untiefen die Lieblingsschuhe sich zu verabschieden drohen (dabei der Gedanke: „Himmel, nun hat die Sache mit der sakkadierten Blickfolge ja auch mich erwischt! „).

Und auf einmal guckt mir vom Grund des Brunnes ganz verschwommen ein wasserleichenartig aufgedunsenes Gesicht entgegen, mit starren, leblosen Augen darin, verbittertem Zug um die Lippen und einer Nase, die der meinen verdammt ähnlich ist.

Kein Wunder, denn dort unten liegt die Mutter (die ewig Abwesende, die längst Verweste) und neben ihrem Kopf sind die roten Schuhe gelandet, die ich im Augenblick des Erkennens (der Mutter!) sofort und für immer aufgebe, loslasse, ja: gar nicht mehr haben will, weil ihre Wiedererlangung schließlich erfordern würde, mich in dieses dem Untergang geweihte Gewässer zu begeben und etwas an die Oberfläche zu holen, das dermaßen kontaminiert wäre (wovon?), dass ich da nichts, aber auch gar nichts riskieren sollte (bloß: was?).

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The moon rose and stripped the earth to its bone.

Dunkelheit rundherum, Ver(w)irrungen auf Traumpfaden, die Nacht durchwandelnd, sich mit ihr verwandelnd – und am nächsten Morgen ist für einen kurzen Augenblick alles wie immer und zugleich nichts mehr wie zuvor, nur: ich weiß nicht, warum – die Fiktionen, die die Finsternis gebar, mit dem ersten Morgenlicht sind sie zu Staub zerfallen (den aufzuwirbeln man lieber bleiben lässt, so sage ich mir, und stehe auf und stürze mich in den Tag).

Als ich etwas später im Auto sitze und zufällig „Black Cowboys“ höre, fallen mir die nächtlichen Schattenrisse plötzlich wieder ein, Bilder zucken wie Blitze durchs Bewusstsein und ich versuche, eine innere Stimme, die irgendetwas sagen möchte, das ich gerade nicht hören kann will, mit Springsteens Worten und Akkorden zuzudecken, so dass sie unter dieser Decke zur Ruhe kommen kann (erst wollte ich „ersticken kann“ schreiben, aber nein!).

Black Cowboys“ – das ist eine düstere Erzählung über Kindheit, Mutterliebe, Bindung, Verlust and an endless nothing in between, wie Springsteen es in dem Lied so wunderbar formuliert.

Sie erinnert und ermahnt mich, meine eigene Geschichte von der Mutter doch noch zu Ende zu erzählen (es ist ja kein Zufall, dass von den sechs, vor langer Zeit hier veröffentlichten „Matrjoschka„-Episoden, die siebte und letzte noch immer fehlt).

Eines Tages oder eines Nachts, auf jeden Fall bald.

2 Kommentare zu “The moon rose and stripped the earth to its bone.

  1. ein schönes zitat, eine metapher auch, die verschiedene horizonte aufmachen kann …
    (ja, die siebte fehlt.)
    lieben gruß aus der nasskalten nachbarschaft❣️

    Gefällt 1 Person

  2. Wie Dir zu Geschichten und Träumen immer wieder der passende Song des Tages zukommt und einfällt. Musisches Transzendieren …
    Kürzlich nach der Flut im Rheinland fiel mir der „Backwater Blues“ ein, den Bessie Smith vor an die hundert Jahren nach einer schweren Überflutung von Nashville verfasste, vielfach gecovert.
    Gute Sommertage und sternschnuppernde Nächte
    Bernd

    Gefällt 2 Personen

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