Gedacht Geflucht Gefreut Gelaufen Gelitten Genossen Gesehen Gespürt Gestaunt Getan Gewundert

Himmel der Bayern (99b): Zugsp(r)itztour – der gestrige Gipfelsturm.

5:20 Uhr: Im Stockbett über mir heftiges Knarzen, trotz Lärmschutz deutlich vernehmbar. Die beiden Schwaben rollen bereits wenige Sekunden nach dem Aufwachen emsig ihre Schlafsäcke zusammen. Beim Abstieg aus der oberen Schlafetage landet ein Schwabenfuß auf meinem Schlafsack. Ich bin nun auch wach, bleibe aber noch liegen, denn Frühstück gibt’s „erst“ ab 6:30 Uhr.
5:30 Uhr: Pule mir die Wellnoise-Stöpsel aus den Ohren, wohl wissend, was mich erwarten wird. Eh egal, ich bin ja jetzt wach.
5:50 Uhr: Überall Gekrusche und Geräume im Lager, dazwischen Huster, Pupser und letzte Schnarcher. Ich hasse Hüttenübernachtungen.
6:05 Uhr: Schäle mich aus dem Schlafsack und setze mich vorsichtig auf. Der Körper fühlt sich besser an als erwartet, aber noch bin ich ja nicht aufgestanden. Das Erste, was meine müden Augen erblicken, ist ein breiter Männerhintern in Calvin-Klein-Unterhose. Ich hasse Hüttenübernachtungen. Und ich habe noch nie einen Männerhintern in Calvin-Klein-Unterhose gesehen, der so aussieht wie auf der Verpackung abgebildet.
6:15 Uhr: Im Waschraum ist schon die Hölle los. Man muss eine Weile anstehen, damit die Coronaregel „Nur 3 Geimpfte/Genesene auf einmal“ eingehalten werden kann.
6:25 Uhr: Das Wasser, das aus dem Hahn über der Waschrinne in meine Hände läuft, ist kälter als kalt. Nach dem Zähneputzen spüre ich weder mein Gebiss noch meine Finger. Quasi ein Kaltstart in den Tag.
6:40 Uhr: Kleiner Gang rund um die Hütte. Hammer-Morgenstimmung. Irgendwie muss man sich ja in Laune und Schwung bringen.
6:52 Uhr: Ankunft im Frühstücksraum. Beim Blick auf die Teller der schon mampfenden Mitschläfer bin ich heilfroh, die Variante „Kleines Knorrhütten-Frühstück“ gewählt zu haben.
7:13 Uhr: Ich hole mir noch einen kostenpflichtigen Zweitkaffee und frage nach Nutella, denn die Erdbeermarmelade schmeckt scheußlich. Mit Erfolg.
7:26 Uhr: Der Hüttenwirt kommt in den proppenvollen Gastraum und brüllt in derbstem Boatzn-Bayrisch, dass das gesamte Haus heute bis 8 Uhr leer sein müsse, weil dann ein Versorgungsflug mit dem Hubschrauber einträfe. Allgemeine Hektik bricht aus, denn manche haben grad mal den ersten Bissen vom morschen Hüttenbrot zu sich genommen.
7:34 Uhr: In dem engen Schlafager unterm Dachgiebel stehen 17 Leute und packen zeitgleich in Windeseile ihre Rucksäcke. Schlafsäcke fliegen einem um die Ohren, Klamotten fallen von den wenigen Haken auf den schmuddeligen Holzboden, Hüttenschuhe werden verwechselt, jeder flucht in seine FFP2-Maske hinein. Dazwischen ziehen sich noch ein paar Bergfreunde für den bevorstehenden Wandertag an oder um. Hie und da sprüht sich jemand mit Sonnenschutz ein. Es ist zum Davonlaufen.
7:45 Uhr: Eine lange Schlange vor den drei Damentoiletten. Beschließe daher, erst meine Bergstiefel aus dem Schuhraum zu holen. Dort ebenfalls eine lange Schlange. Wie soll man ohne Schuhe davonlaufen?
7:58 Uhr: Auf der Toilette sitzend die Schuhe geschnürt, Multitasking in beengten, miefenden Räumen ist meine Sache nicht.
8:02 Uhr: Ich schultere den Rucksack und stolpere aus der Hütte. Der Hüttenwirt steht schon an der Tür, klimpert ungeduldig mit dem Schlüsselbund und raunzt mir zu, er habe „8 Uhr“ gesagt und nicht „kurz nach acht“. Ich raunze zurück, dass er das mal besser schon gestern Abend angekündigt hätte, dann wäre uns allen dieser unnötige Tumult erspart geblieben.
8:05 Uhr: Durch laute Grantrufe verscheucht der Wirt die letzten, noch ihre Stiefel schnürenden Gäste von der Terrasse. Gleich käme der Hubschrauber und dann bestünde für jeden Lebensgefahr, der noch hier herumstünde. Alles verlässt fluchtartig das Gelände.
8:23 Uhr: 150 Meter oberhalb der Hütte lehne ich meinen Rucksack an einen Felsblock. Scheiß-Morgenhektik. Ich ziehe mich nun in aller Ruhe um, packe meinen Rucksack nochmal neu (und ordentlicher) und creme mich mit 50er-Sonnenschutz ein. Ein Schaf guckt mir interessiert zu und mopst mir einen meiner Trekkingstöcke, die Griffschlaufe hat es ihm angetan, vermutlich schmeckt sie nach Salz.
8:43 Uhr: Etappe 2 kann nun beginnen. Ich bin etwas wacklig auf den Beinen. Immerhin nirgends Muskelkater. Und die Schulter schläft offenbar noch, wahrscheinlich muss sie sich noch von dem gestrigen Terror erholen.
8:55 Uhr: Siedend heiß fällt mir ein, dass ich dem Gatten versprochen hatte, mein Handy auf laut zu stellen, damit er mich erreichen kann. Um halb 9 Uhr wollten er und das Fräulein in München in den Zug gen Garmisch steigen, so er denn trotz Bahnstreik fahren würde.
9:10 Uhr: Trinkpause. Zwei Haferl Kaffee sind keine ideale Vorratsbewässerung an so einem Tag, ich gieße also einen halben Liter koffeinfreie Flüssigkeit hinterher. Die Sonne brennt vom Himmel. Die Stirnlampe fällt aus einem Seitenfach, kullert den Schotterweg ein Stück runter und bleibt neben ein paar frischen Schafkötteln liegen.
9:45 Uhr: Boah, ist der Weg anstrengend zu gehen. Man rutscht bei jedem Schritt. Ein Springsteen-Song fällt mir ein. „One step up and two steps back„. Singen geht jetzt nicht, zu anstrengend beim Gehen.
10:05 Uhr: Der Gatte ruft an. Er hat es zwar mit dem Zug bis nach Garmisch geschafft, kommt vom Bahnhof aus aber nicht mehr weiter. Für alle Weiterreiseoptionen zur Zugspitze 2 bis 3 Stunden Wartezeit in der prallen Sonne. Mit Pippa dabei ein Ding der Unmöglichkeit, und auch ohne Hund ein Wahnsinn. Sehr schade. Ich erläutere ihm, wo er sich und dem Fräulein einen schönen Tag machen soll. Empfehle das Graseck und die Kaiserschmarrnalm. Beides findet spontan seine Zustimmung. Und ist auch praktisch, denn dort in der Nähe findet er anschließend auch unser Auto, falls es nicht geschmolzen ist. Ich wünsche den beiden eine angenehme Spazierrunde und gebe schweren Herzens die Gipfelbreze zum Verzehr frei.
10:23 Uhr: Der landschaftlich geruhsame Teil meiner Unternehmung endet abrupt auf knapp 2.600 Meter Höhe. Zwischenziel Sonnalpin ist erreicht. Das Zugspitzplatt: ein unendlich trauriger Anblick. Skisport- und Tourismus-Destruktionswahn pur. Erschütternd. Der Mensch ist nicht nur dem Menschen ein Wolf, sondern er frisst auch die schönste Natur ratzekahl kaputt, vernutzt sie als Sportgerät und Eventarena.
Auch der nördliche Schneeferner – ein Anblick zum Heulen. Viel blieb vom Gletscher nicht mehr übrig, bald wird auch der letzte Rest verschwunden sein. Was haben all die Menschen hier oben verloren?
10:55 Uhr: Nach einem kurzen Rundgang durchs Platt kehre ich ins „Gletscherlokal“ ein. Es hilft ja nichts, ich muss dringend was Essen und Trinken. Und angesichts der aus den diversen Bahnen quellenden Menschenhorden, ist es ratsam, das noch vor dem Ansturm zur Mittagessenszeit zu tun. Das Schicki-Paar in den Liegestühlen vor mir lässt sich Aperol Sprizz servieren und macht Fotos von seinem hechelnden Hündchen mit Swarovski-Halsband.
11:20 Uhr: Die Schale Pommes schmeckt einfach super, die Hollerschorle verdampft noch vor Ankunft im Magen. Ich würde gern noch mehr futtern, aber das wäre unklug vor den letzten 350 Höhenmetern, die als die steilste und schwierigste Passage der Tour gelten.
11:45 Uhr: Weiter geht’s. Täuscht das oder ist der Rucksack schon wieder schwerer geworden?
11:55 Uhr: Bin froh, nicht zu viel gegessen zu haben, das Hochsteigen auf dem nicht durchgehend erkennbaren Pfad durchs Geröllfeld ist ziemlich beschwerlich. Einige Meter hinter mir rutschen zwei Bergsteiger aus, ein Schwung Felsbröckerln rutscht direkt hinterher. Man kann nur den Kopf schütteln, dass hier tatsächlich auch ein paar Turnschuhtouristen herumkraxeln, manche sogar jenseits der Wege.
12:09 Uhr: Nun müssen die Lekis an den Rucksack geschnallt werden, die seilversicherte Strecke beginnt und da gingen einem die Dinger überwiegend im Weg herum. Teilweise braucht man vielleicht man auch beide Hände fürs Seil.
12:16 Uhr: Au weia, geht das in die Arme!
12:18 Uhr: Die Schulter scheint einen Tag Urlaub oder Zeitausgleich genommen zu haben, denn ich spüre sie nicht. Wirklich kein bisschen. Vielleicht weiß der Körper auch einfach, wann er zu Stillschweigen verpflichtet ist.
12:32 Uhr: Begegnungen mit Entgegenkommenden machen hier noch weit weniger Spaß als anderswo in den Bergen. Ohnehin ist mir unbegreiflich, wie man diesen Weg abwärts gehen kann.
12:38 Uhr: Schon das zweite Schild, das auf einen an meinem Geburtstag hier Abgestürzten erinnert. Diese Todesfälle gehen aufs Konto eines dieser dämlichen Sportevents, dem Horror-Zugspitzlauf 2008, der trotz Schneefall und eisigem Wind durchgezogen wurde, von den Gestorbenen sogar in Shorts und ärmelfreiem Shirt. Unvorstellbar, das alles. Ich vermag nicht zu sagen, ob ich die Veranstalter oder die Teilnehmer bescheuerter finde.
12:41 Uhr: Ganz langsam. Ein Schritt nach dem anderen, immer zum Fels gucken, immer eine Hand am Seil. In den Kurven clever umgreifen. Gewicht mehr nach vorne verlagern, weil Balance und Statik mit dem Tourenrucksack auf dem Rücken doch ziemlich anders sind als sonst. Atmen nicht vergessen. Von oben guckt schon die gigantisch verbaute Gipfelstation herunter.
12:46 Uhr: Höhenrausch? Sonnenstich? Sportlerdelirium? Nein! Tatsächlich kommt da ein Durchgeknallter mit seinem Mountainbike über der Schulter heruntergezittert. Am Seil! Ich höre, wie der ältere Mann, der sich im Tross der abstandhaltenden Gipfelbesteiger ein Stück vor mir am Seil emporzieht, eine heftige Diskussion mit dem Biker anzettelt, als die beiden sich begegnen. Der Unbelehrbare schmettert alle Anmerkungen damit ab, dass es ja sein Leben sei, das er ggf. dabei riskieren würde. Falsch, klärt ihn der ältere Mann auf: Was wäre, wenn ihm sein Fahrrad auskäme? Das fiele dann womöglich einem anderen drauf und der könne ja dann alles zwischen verletzt und tot sein. Unbeirrt eiert der Bekloppte mit dem Rad über der Schulter weiter und nähert sich mir. Ich weiche aus – gottseidank ist das an der Stelle überhaupt möglich – und schüttle den Kopf, zettle aber bewusst keine weitere Auseinandersetzung an, weil ich mir meine Kräfte für die letzten Meter aufheben muss.
12:56 Uhr: Geschafft! Und: Willkommen im Gipfelstationsgewusel auf Deutschlands höchstem Berg. Das war zu erwarten, ich bin nicht naiv und war drauf eingestellt. Wenn man’s in echt erlebt, ist es trotzdem nochmal etwas übler als in der Vorstellung. Links: Hallihallo Tirol mit allerlei bunten Schildern und Geraffel. Rechts: Freistaat Bayern, eher nüchtern und schmucklos. Dazwischen länderübergreifender Alpinsouvenirramsch. Das Wetter ist dummerweise noch besser als es vorausgesagt war, ein Bilderbuchsommertag, die Fernsicht wirklich einmalig, die Temperaturen auf fast 3.000 Meter Höhe entsprechend mild. Es geht zu wie samstags am Stachus, wie man so sagt. Ich bin allgemein und vor allem samstags selten in der Stadt und kann da eigentlich nicht mitreden.
13:07 Uhr: Nach einem Orientierungslauf auf dem Plateau verschicke ich drei „Geschafft“-Nachrichten nebst Schwitz-Selfie. Dann entdecke ich am Ostende der Asphaltterrassen das bekannte goldene Gipfelkreuz. Nicht auf Anhieb zu erkennen, da von einer Menschenansammlung umzingelt. Ich beuge mich übers Geländer, um zu gucken, wo der Zustieg zum Gipfelkreuzfelsblock beginnt, man muss ja erstmal das Ende der Menschenkette entdecken und dann entscheiden, ob man sich da ernsthaft einreihen möchte. Das Ende der Anstehenden ist aber nicht zu erkennen, weil es bis in ein Treppenhaus der Gipfelbebauung hineinreicht. Ich frage jemanden mit „Zugspitze – Top of Germany“-Shirt, der nach Personal aussieht und es auch ist, ob das tatsächlich die Schlange für den Aufstieg zum Gipfelkreuz sei. Ja, ist sie. Wartezeit derzeit: 35 bis 45 Minuten. Ihr könnt mich mal gern haben! Die Terrasse vor dem Münchner Haus hier heroben ist ohnehin zwei Meter höher als der Gipfel, das reicht und mir reicht’s auch. Null Ehrgeiz, mir ein Gipfel-Selfie zu erstehen. Dafür Durst. Und wie.
13:14 Uhr: Nach einem halben Liter Wasser, die ich noch im Rucksack hatte, stelle ich mich in die Schlange vor der Theke, und das auch nur, weil daneben – kaum zu glauben: ja, auch hier! – eine „Himmel der Bayern“-Werbetafel prangt. Hacker Pschorr dürfte mir eigentlich locker ein komplettes Weißbierjahr spendieren, so oft, wie ich kostenlos Werbung für die mache.
13:28 Uhr: Ein dezenter Höhenrausch bemächtigt sich meiner, schon nach dem ersten Schluck. Die Kartoffelstäbchen vom Sonnalpin saugen offenbar nicht viel auf. Darf sein, ich sitze ja nun. Auf der Aussichtsplattform steht Little Steven und schießt Gipfelkreuzfotos. Er ist zwar 30 Jahre jünger als der echte Steven van Zandt, aber das sehe ich erst, als ich ihn anspreche und frage, ob er mich beim Zweitschluck fotografieren würde. Das macht er gern, so gern sogar, dass er gleich fast zwei Dutzend Aufnahmen macht, so dass ich hernach genug Auswahl habe, um die eine, auf der ich nicht ganz so fertig ausschaue, rauszusuchen.
13:45 Uhr: Der Gatte meldet sich von der Kaiserschmarrnalm und schickt ein Foto von der in der Partnach badenden Pippa und eins von der Zugspitze, die er von dort aus ja auch sehen kann. Ich antworte, wir könnten heilfroh sein, dass wir dem kleinen Hundemädchen diesen Rummelplatz hier erspart haben.
14:12 Uhr: Das Glas ist leer. Mein Kopf auch. Dafür ist rundum alles voll. Ich bleibe auf meinem Platz am Rande der Terrasse sitzeb und drehe den Menschenmassen noch eine weitere Dreiviertelstunde den Rücken zu.
14:18 Uhr: Kurzer Tränenfluss. Diesmal nicht wegen Sonnencreme in den Augen, sondern vor Freude, dass ich diese Tour machen konnte, durfte und alles gut überstanden habe.
14:58 Uhr: Kaufe am Ticketschalter einen Fahrschein für die Talfahrt. Die Schlange für die, die per Seilbahn zum Eibsee runter wollen, ist gefühlte drei Kilometer lang. Ein Seilbahnmitarbeiter informiert, dass die Wartezeit bis zu zwei Stunden betrüge. Ja, da steht man nun unter all diesen Leuten, selbst ganz leutig, um nicht zu sagen: geläutert, weil man seit ewig langer Zeit erstmals wieder die Zugehörigkeit zur großen Menschenhorde Menschenherde so richtig und rundum spürt. Von Herdenimmunität allerdings nichts zu spüren, nirgends. Ich fürchte, die erreiche ich auch nie – ich hasse Menschenmassen, außer auf Springsteen-Konzerten.
15:10 Uhr: Ein Stuttgarter (!) spricht mich an (auch schon wurscht), er ist ebenfalls zu Fuß hier hochgelaufen und hat mitbekommen, dass es per Gletscherbahn (runter zum Zugspitzplatt) und per Zahnradbahn (vom Zugspitzplatt durch den Berg runter nach Garmisch) angeblich deutlich zügiger gehen soll. Wir suchen gemeinsam den Weg zur Gletscherbahnstation. Tatsächlich sind wir nur 20 Minuten später 350 Meter weiter unten am Sonnalpin, wo noch immer Generation Instagram sowie Krethi und Plethi (und die Schnittmenge aus beidem) ihr Unwesen treiben. Über einige Treppen sprinten wir weiter zum Wartebereich der Zahnradbahn. Warten dort eine Viertelstunde, reden über Touren und Torturen.
15:45 Uhr: Der Einweiser von der Bayrischen Zugspitzbahn plärrt, es sei noch ein Platz für eine Einzelperson vorhanden, freilich nicht für die 16 Uhr-Fahrt, sondern für die um 16:30 Uhr. Ich reiße meinen Arm hoch, so gut das nach dem Drahtseilakt vorhin noch geht, schreie“Hier!“ und werde durch die Absperrung gewunken. Dem Stuttgarter gegenüber war diese reflexartige Reaktion (resp. die Konsequenz daraus) nicht fair. Ich beruhige mein schlechtes Gewissen damit, dass er unten im Tal von niemanden erwartet wird, der bei 29 Grad da rumstehen muss und denke lieber nicht weiter über diese meine arg fadenscheinige Exculpation nach.
15:51 Uhr: Ich schreibe dem Gatten eine WhatsApp, dass ich wohl um 17:45 Uhr am Zugspitzbahnhof in Garmisch eintreffen werde.
15:58 Uhr: Der Gatte schickt ein Foto von einer in der Partnach planschenden Pippa und schreibt, er freue sich und würde mich dort abholen.
16:13 Uhr: Ich schreibe dem Gatten, dass ich mich auch freue und riesigen Hunger und Durst hätte. Seit den Pommes habe ich nur einen Müsliriegel gegessen. Nicht aus Geiz, sondern aus einem Mix von Appetitlosigkeit und Unlust, mich erneut irgendwo anzustellen.
16:16 Uhr: Der Gatte verspricht, ein Lokal zu suchen. Und vorher das Auto. Der Parkplatz am Olympiastadion ist immer noch bumsvoll.
16:34 Uhr: Ich schreibe dem Gatten, dass ich seit 5 Minuten in der Zahnradbahn sitze und der Zug pünktlich abgefahren ist.
16:41 Uhr: Der Gatte antwortet, er habe das Auto gefunden und ein Ofen sei nix dagegen.
16:45 Uhr: Auf einmal merke ich, dass ich nicht nur hungrig und durstig, sondern auch todmüde bin. Mir fallen die Augen zu. Die Ohren gottseidank auch, denn mir gegenüber sitzen zwei … – ach lassen wir’s gut sein.
17:18 Uhr: Nein, wir lassen es doch nicht gut sein. Es ist ärgerlich, ausgerechnet von einem Ausruf wie „Heilandzag, i glaub i hän dr Kiddl drom vagässe!“ aufgeweckt zu werden.
17:26 Uhr: Ich überwinde mich und versende für heute eine letzte Nachricht samt Foto. An den Papa. Vielleicht lenkt ihn das ein wenig ab vom Tod seines einzigen Freundes, der zwar absehbar war, ihn aber dennoch mit einer gewissen Wucht traf, als die Mitteilung eintraf.
17:45 Uhr: Die Zahnradbahn kommt im Zielbahnhof an. Beim Einfahren sehe ich den Gatten und das Dackelfräulein am Bahnsteig stehen. Zweiter Tränenfluss des Tages bahnt sich an.
18:11 Uhr: Wir sitzen in einem schattigen Gärtchen eines italienischen Lokals und ich bestelle einen großen Teller Taglioline mit Trüffel. Oder sagt man Trüffeln? Egal, das Nudelgericht schmeckt vorzüglich.
19:48 Uhr: Auf dem Weg zurück zum Bahnhofsparkplatz sieht man über den Dächern von Garmisch die Zugspitze im Abendrot leuchten. Wahnsinn. Und: Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen, denke ich, schon zum zweiten Mal an diesem Tag.
Nochmal ein paar Tränchen, dann ab ins Auto und mit meinen Beiden und Bruce über die abendlich leere A95 heim nach München.

Wenn es Sie interessiert oder Sie grad nix Besseres zu tun haben und sich einigermaßen herdenimmun fühlen, gucken Sie doch mal in eine der Webcams at the Top of Germany, dann haben Sie von all dem schon mal eine kleine Vorstellung, bevor ich im dritten und letzten Akt das Bildmaterial nachreiche, natürlich überwiegend solches, das Ihnen die Webcams vorenthalten.

13 Kommentare zu “Himmel der Bayern (99b): Zugsp(r)itztour – der gestrige Gipfelsturm.

  1. Wunderbar gruselig beschrieben – nichts für einen frei fliegenden Kormoran. Meine Zugspitztour ist wohl einige Jahr her – ich glaube mit Ski und durch einen Tunnel und dann Talwärts. Grüsse tom

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  2. Konnt nicht warten, bis wir in Sachsen sind. 🙃

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  3. Auch wenn ich damit keine Erfahrungen habe: Ab heute hasse auch ich Hüttenübernachtungen.

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  4. Herzlichen Glückwunsch und Respekt vor dieser Leistung! So schön und lebendig, wie Du das beschreibst, hat man ein bisschen das Gefühl, als wäre man selbst dabei gewesen. Danke für diese Bergtour und dass wir dabei sein durften! Ich bin schon gespannt auf die Bilder.

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  5. wie fürchterlich. alles. bis auf die pasta mit trüffel. erinnert mich an fotos vom everest, wo man schlangestehend vorm hillary step ausharrt. nur ohne mountainbiker. und ich bleib dann mal in der frühschicht fürs schwimmen. liebe die leere. 😀

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    • Bis 2.600m Höhe war es für mich eine absolute Traumtour und eine Erfahrung, die ich keinesfalls missen möchte: wunderbare Natur und friedliche Bergwelt, kaum jemand unterwegs, ein Gefühl von Weite und Erhabenheit (und die eine Hüttennacht halt ein notwendige Begleiterscheinung, ohne die diese weite Strecke für mich nicht machbar gewesen wäre).
      Erst ab dem Zugspitzplatt setzte der Alptraum ein, womit ich gerechnet hatte, wenn auch nicht ganz in dem Ausmaß, mit dem ich dort vorgestern konfrontiert wurde.
      Leer ist hier momentan nirgends, wo Menschen gut und gern hinkommen, leider gilt das grad auch fürs Freibad – selbst in den sonst wenig frequentierten Spätabendstunden ist viel los. Ferienzeit, Hauptsaison, Hochsommer eben.
      Liebe Grüße hinauf in die Hansestadt!

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  6. Erinnert mich an die Hochtouren in den Schweizer Alpen und an die Übernachtungen in den SAC-Hütten. In den Schlafsälen roch es nach Schweiss und Verdauung. Schnarcher konzertierten miteinander. Und ab vier Uhr tobten in den Hütten die Seilschaften durcheinander. War trotzdem schön in den Bergen.

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    • So erlebe ich das ebenfalls und war daher auch nicht überrascht davon. Es ist eben der Preis für das unvergleichliche Erleben einer Abendstimmung hoch oben in den Bergen oder eines Sonnenaufgangs frühmorgens in dieser paradiesischen Umgebung. Dafür nehme ich ab und zu auch mal solche Hüttenzustände in Kauf und entziehe mich dort so gut es geht dem Schweißgeruch und Gewusel.
      Liebe Grüße in die Schweiz!

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  7. Kristina Markan

    Schön! Vielen Dank fürs Mitnehmen auf Hütte und Berg – und Glückwunsch 🍻

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  8. Ich schliesse mich den Glückwünschen an. So toll und amüsant beschrieben. Danke für’s Teilhabenlassen.

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