Von wegen „Und jährlich grüßt das Murmeltier“ …
Eine Viertelstunde vor Abreise in die Schweizer Bergklausur ist bereits klar, dass die Annahme, die diesjährige Zeit dort oben auf der Alm würde der letztjährigen bis aufs Haar ähneln, ein Trugschluss war.
Beim Abstellen des letzten „Gepäckstücks“ (natürlich die sauschwere Fressvorratskiste) im heimischen Hinterhof, schießt mir ein stechender Schmerz in den unteren Rücken. Einer dieser Schmerzen, bei denen man sofort weiß: das ist nix, wo man sich hernach mal kurz schüttelt & schon geht’s weiter wie zuvor, nein, das hier ist was aus der Kategorie „Da hat man länger was von“ .
Und so ist es dann auch.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erläutere ich dem hübsch Bewimperten, der wenig später im Hof vorfährt, was mir gerade widerfahren ist und was das (mindestens!) für den heutigen Tag, wenn nicht gar für die gesamten gemeinsamen Tage in Graubünden bedeuten wird: ich werde nichts heben/tragen können, mich erstmal nicht bücken können und womöglich auch nicht viel in den Bergen herumspazieren können.
Wir überlegen, ob wir überhaupt losfahren sollen, denn schon der Einsteigevorgang ins Auto erinnert an eine Altenheimbewohnerin, die unter Mühen und eigentlich nur, weil’s halt so ausgemacht ist, zum Kaffeetrinken gekarrt werden soll, aber nicht an den Aufbruch der vier sonst so fitten Freunde zu neuen Abenteuern.

Der hübsch Bewimperte verstaut unbeirrt all unsere Sachen im Kofferraum, gurtet die Hundemädels auf der Rückbank an, fährt bei der nächstbesten Apotheke vorbei, kommt mit einem Großpack Thermacare–Ganzkörper-Bandagen zurück (ja wir werden uns doch von einem Hexenschuss nicht unterkriegen lassen!)- und los geht’s Richtung Bodensee.
Dort stakse ich etwas bedeppert von der hochdosierten Schmerztablette, die ich direkt nach Abfahrt einwerfe (und die irgendwie mehr im Kopf wirkt als im Kreuz), am Seeufer herum.
Vorarlberg, Rheindelta, Rohrspitz.
Schöne Gegend, bestes Wetter, fangfrischer Marillenkuchen.
Der Freund, seine kleine Portugiesin und das Dackelfräulein tänzeln über den Uferkies, ich trotte wie eine lahme Ente hinterher.

Pippa findet eine Melone im See und schlagartig offenbart sich einem, wieso dieses Trum Obst, dessen Entkernung mehr Kalorien verbraucht als man sich durch den entwürdigend sabbernden Verzehr dieser Sommerfrucht zuführen kann, die Bezeichnung Wassermelone trägt.

Wir erreichen das Prättigau am frühen Nachmittag, gehen im letzten Talort in einen Supermarkt, um dort noch ein paar frische Sachen – Milch, Butter, Käse – zu kaufen, dann geht’s über die serpentinenreiche, steile Bergstraße hinauf.
Ein Baufahrzeug begegnet uns und so erfreulich es auch ist, dass sie da heroben ein paar Ausweichbuchten und Fahrbahnfestigungen mehr bauen, so unerfreulich ist es, dass man bis zur Fertigstellung der Bauarbeiten dem Gegenverkehr bergab rückwärtsrollend ausweichen muss.
Immerhin vergesse ich für die Dauer dieser letzten Reiseetappe meine Rückenschmerzen und das Vergessen hält sogar noch bis kurz nach Ankunft im Maiensäss an.

Den Freudentränen nahe steigen wir aus dem kleinen Blauen: der Anblick der Drusenfluh noch um ein Vielfaches besser als der Name dieser beeindruckenden Bergkette, die beiden Hunde tollen sofort durch die sattgrüne Almwiese vor unserer Hütte, von nebenan muht die Kuhherde munter herüber.
Das Glockenbimmeln und eine sanfte Brise sind hier auf 1.700 Meter Höhe die einzigen vernehmbaren Geräusche.

Der hübsch Bewimperte schleppt alles bis auf den Toaster (der leicht genug ist, so dass ich ihn eigenhändig vom Kofferraum zur Küche befördern kann) ins Haus, wir schalten die Sicherungen ein, öffnen die Fensterläden…

…stellen die Lebensmittel in den Kühlschrank, verschieben alle weiteren Ankunfts- und Verräumarbeiten auf später, schnappen uns die Hundeleinen und brechen auf zu einer kleinen Spazierrunde.
Eine zweite Ibuprofen ermöglicht es, dass wir bis zum Berggasthof gelangen, der ein Stück unterhalb von unserem Maiensäss liegt. Das Engel-Bier und die Rösti noch genauso lecker wie im letzten Jahr, die Hunde und wir hingegen ein ganzes (Corona-)Jahr inniger und vertrauter. Gut so, denn wenn einer dem anderen plötzlich in die Socken etc. helfen muss, ist es recht hilfreich, einander schon vor derlei Pflegedienstleistungen etwas besser zu kennen.
Im Sonnenuntergang auf dem Heimweg, die Drusenfluh schimmert in Goldorange, die Luft so rein, die Sicht so klar, die fiese Hexe im Rücken, das pure Spätsommerglück vor der Nase.
Wir packen aus, beziehen unsere Betten, fegen Unmengen an Mäusekötteln weg, staubsaugen überall und werkeln so lange, bis alles an seinem (sauberen) Platz ist und schließlich nur noch die Entscheidung zu treffen ist zwischen dritter Tablette oder zweitem Bier.
Die Wahl fällt auf Letzteres, und weil wir ja nicht nur das Leid teilen, sondern auch die Promille, bekommt jeder ein Glaserl, was auch deshalb sehr sinnvoll ist, da das Feuer im Ofen sich zwar entfachen lässt, der Rauch aber nicht kaminwärts abziehen will, und so kann die Vernebelung der Stube gleich Hand in Hand geben mit der der Hirne.
Hustend und prustend gelingt es nach einer Weile, die Glut zu ersticken und so der weiteren Ausräucherung Einhalt zu gebieten, nur schade, dass die wenige Wärme, die grad erst entstanden war, durch das Aufreißen sämtlicher Fenster nun sofort wieder entweicht.
Auch der Boiler lässt uns diesmal im Stich, etliche Stunden nach dem Einschalten immer noch kein warmes Wasser, Warmtanzen geht wegen des Rückens nicht und so gehen wir schließlich schon vor Mitternacht schlafen.
Unter meiner Schlafcouch saust ab und zu eine Maus durch, wahrscheinlich Richtung Küche, ich kann mich aber nicht zum Boden hinunterbeugen, um diese Vermutung zu überprüfen, weil ich weder die stabile Rückenlage noch das Federbett zu verlassen wage.
Es wird eine eher kalte Nacht, trotz Daunendecke und Dackelfräulein darunter, lediglich der Eisengranulat-Aktivkohle-Umschlag im Lendenwirbelbereich ist acht Stunden lang zuverlässig brüllheiß.
Wachliegend und vor mich hinfröstelnd verkneife ich es mir, darüber zu sinnieren, wieso ich mir bei zig Bergtouren nicht einen einzigen Kratzer hole, vom einmaligen, keine zehn Sekunden dauernden Tragen einer Fresskiste aber einen solchen Alptraum im Rücken, zähle stattdessen Schäfchen Mäuschen und träume später von meiner Abiturprüfung in Biologie, von Chloroplasten und Photosynthese, freilich nicht im Detail, dennoch detailliert genug, um morgens davon ausgehen zu können, dass ich tatsächlich ein paar Minuten geschlafen haben muss.
Um kurz nach 6 Uhr steht die Kuhherde hinter der Hütte auf und läutet den neuen Tag ein.

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Bleiben Sie dran & lesen Sie schon morgen „Pretty Prättigau“ – Episode 2, Arbeitstitel: „Die Tribute von Pany.“ (Untertitel des Arbeitstitels: „Es kann nur besser werden.“).
Ihren Ausführungen über die Notwendigkeit von Wassermelonen ist uneingeschränkt beizupflichten. Ich wünsche baldige Besserung im Rücken und einen schönen Aufenthalt!
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Würde ich Dinge wie Döner essen, könnte man die Liste der Lebensmittel, deren Verzehr entwürdigend ist, noch ergänzen, bislang stehen da bei mir nur Öbster drauf (mit Pfirsich und Nektarine verhält es sich ja ähnlich, toll, dass ich eh kein Steinobst vertrage).
Der Rücken ruckelt nun schon seit vorgestern in München weiter, aber es geht langsam aufwärts.
Herzliche Grüße nach Bonn!
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