Sie müssen entschuldigen, dass ich den dritten und letzten Teil dieser kleinen Schweiz-Serie erst heute nachreiche – gestern war ich einfach zu bewegt. Einerseits von dem Niedecken-Abend („Girl from the North Country“ und „Forever young“ – das war ein bisserl zu viel für meine eh schon wacklige Verfassung), andererseits wegen eines Ausflugs mit dem Gatten (langer Spaziergang am Ammersee und – endlich, endlich, endlich! – die Bootsfahrt, nach der ich mich schon den ganzen Sommer lang sehne).
Wo waren wir noch gleich stehengeblieben?
Richtig – beim nächtlichen Klopfen an der Tür unseres Maiensäss‘ im Prättigau.
Der hübsch Bewimperte und ich saßen – satt von Pasta/Nudeln mit Sugo/Sauce und strapaziert von einem großen Tag voll kleiner Spaziergänge – in der Küche unserer winzigen Graubündner Berghütte, als es gegen 22 Uhr plötzlich klopfte.
Beim ersten Mal denken wir noch, es könne der Wind, der Boiler oder die Mäusegang gewesen sein, beim zweiten Mal begreifen wir: da steht wohl wirklich jemand vor unserer Tür.
Noch bevor wir uns darüber verständigen können, wer den Schürhaken in die Hand nimmt und wer die Tür öffnet, hat der Klopfer die Klinke auch schon eigenständig heruntergedrückt und ist eingetreten – so kommt’s eben, wenn man vergessen hat, von innen abzusperren, weil man sich dort oben in der völligen Einsamkeit wähnt.
Vor uns steht ein etwas bleichgesichtiger, dreckbespritzter Radfahrer, der sich als Chirurg aus Hamburg entpuppt und sich hier oben „verfahren“ hat. Na sowas.
Ausnahmsweise haben wir an diesem Tag tiefes Verständnis für Apps, die Wegstrecken schräg berechnen und hören uns seine Geschichte genauer an: Erst zwei Tage zuvor von Norddeutschland nach Graubünden übergesiedelt, heute den Dienst im Spital des Talorts angetreten, spontane Tour am Feierabend – und dann versagte die App. Nun ja, zugegebenermaßen versagte wohl auch der gesunde Menschenverstand, denn wenn man erst nach 18 Uhr zu einer Mordstour startet, könnte man ja wenigstens eine Jacke, etwas Proviant und eine Beleuchtung mitnehmen.
Der junge Arzt hatte dann von St. Antönien aus den kürzesten Weg zurück wählen wollen, der dummerweise (und ohne dass das digitale Planungstool dies kenntlich machte) über schmale Bergsteige führte, die für sein Rennrad eher ungeeignet waren. Ohne Licht und mit leerem Akku war er plötzlich in die Dunkelheit geraten (hm, kommt die wirklich so dermaßen plötzlich?) und hatte sein Rad schließlich geschoben oder getragen, weil er keinerlei Orientierung mehr im stockdusteren Gelände hatte. Die erleuchteten Fenster unserer Hütte waren nach über zwei Stunden irrlichternden Herumstolperns das erste Zeichen der Zivilisation, das er erspähte.
Ja prima.
Und da stand er nun, wusste weder, wo er war, noch, wo er hinmusste (geschweige denn wie er dort hinkäme).
Pflichtschuldig fragen wir ab: Verletzt? Rad kaputt? Kalt? Hunger? Durst? und kümmern uns antwortgemäß um den völlig fertigen Fischkopp. Während er unseren Müsliriegelvorrat auffrisst, ziehe ich mir Anorak, Mütze, Handschuhe und Stirnlampe an, um ihn zwanzig Minuten durch die Dunkelheit hinab zum Berggasthof geleiten zu können.
Unterwegs hänge ich sein Smartphone noch an eine unserer Powerbanks, damit er bei Pannen, die noch folgen könnten (die Nacht ist ja noch jung), um Hilfe rufen kann im Talort Bescheid geben kann, dass er im Berggasthof nächtigen wird.
Auf dem Weg hinab zum Gasthof plaudern wir über dies und jenes, der Bursche bedankt sich alle paar Meter für die Unterstützung (er hatte sich, bevor er unser Maiensäss in der Ferne leuchten sah, bereits auf ein Biwakieren ohne Biwaksack eingestellt) und will sich unbedingt revanchieren – ich erzähle ihm, dass ich aktuell übel Rücken habe und auch sonst noch so manches im Angebot hätte, wo man vielleicht mal einen guten Chirurgen brauchen könnte, aber er ist zu fertig oder zu dankbar, um das als Scherz aufzufassen und murmelt nur „Ja, jederzeit gerne!“
Der hübsch Bewimperte bleibt bei den Hundedamen, behält den hinabwandernden Lichtschein aber meiner Stirnlampe stets im Blick und leuchtet mir, als die Funzel auf meinem Haupt sich wieder aufwärts bewegt, mit einer Taschenlampe von oben entgegen, damit ich schnellstmöglich zurückfinde.
Übrigens ein Wahnsinnssternenhimmel, in der Stadt sieht man sowas vor lauter Lichtverschmutzung ja nie – auf den letzten Metern knipse ich die Stirnlampe aus und gucke nur noch nach oben, in diese funkelnde Pracht.
Den darauffolgenden Tag verbringen wir bis zur Mittagszeit im Pyjama. Frühstück, Herumlungern, Ibuprofen, Rückengymnastik, Haareschneiden, Geradeausgucken, Hunde bespaßen, Halb-FKK-Turnen in der Almwiese, Fotografieren, Duschen, Zweitfrühstück, Zecken entfernen, ein paar Hausarbeiten und die üblichen tiefschürfenden Gespräche.
Heute ist es an mir, den „kleinen Spaziergang“ zu planen und tatsächlich nutze ich dazu wieder eine App, freileich eine andere als die, die uns am Vortag so ver_app_elt hatte. Diesmal besteht der Beschiss nicht in der Höhenmeterangabe, sondern im Bodenbelag – was als harmloser, schattiger Wanderpfad gekennzeichnet war, entpuppte sich als saumäßig schlammiger Steig, wahrscheinlich sagt man heutzutage eher Mud Challenge dazu.
Die beiden Hunde finden es großartig, in dem von Kuhhufen perforierten Pfad von Matschloch zu Matschloch zu hüpfen, wir eiern etwas weniger gutlaunig hinterher und versuchen angestrengt, nicht knöcheltief in den Morast einzusinken, tun’s dann doch, und tun hernach so, als wäre es nicht weiter tragisch, wenn einem der Schlonz im Schuh schmatzt und die Füße ausschauen wie Fango vom Feinsten.
So viel Zeit bleibt auch gar nicht, sich dem Sumpfchakra zu widmen, denn oben herum sind wir auch gut gefordert: in den bewaldeten Stücken des kleinen Spaziergangs folgt ein Spinnennetz aufs andere, gern auf Gesichtshöhe und mit in der Mitte thronender Monster-Thekla, die natürlich nur darauf wartet, die Menschennasen, die an ihr Netz dotzen, gierig zu verspeisen.
Die zweieinhalb Stunden vergehen so jedenfalls wie im Flug – das ist ja oft das Meditative am Marschieren jenseits ausgetretener Wanderwege: je garstiger das Gelände, desto fokussierter der Fuß und desto konzentrierter der Kopf, keine Chance, unnützen Gedanken nachzuhängen oder in sich hineinzuspüren (und dort ja eh nur wieder Rücken zu finden).
Alles wird eins in solchen Momenten: Bodenbelag und Beinkleid, Spinnweben und Seelenleben.
Wir kommen erst wieder bei uns und bei einander an, als wir auf der sonnigen Terrasse des Berggasthofs vor unseren Kuchenstücken sitzen (ich Rharbarber, der Freund irgendwas unaussprechlich Schweizerisches, das sich nach totem Bär anhört, obwohl angeblich überwiegend Nüsse drin sind), uns der verkrusteten Schuhe und Strümpfe entledigt haben und uns im Dunstkreis der Drusenfluh von der Wirtin den Fortgang der Expedition des Chirurgen erzählen lassen, denn an ihrer Tür hatte ich den Kerl ja in der Nacht zuvor verabschiedet, in der Hoffnung, man würde ihn und sein Rennrad mit dem Range Rover schon noch zu Tale befördern.
Das war allerdings nicht der Fall, wie wir dann erfahren – das Nordlicht habe sich nach kurzer Einkehr und dem Angebot, bei ihr Quartier zu beziehen, entschlossen, mit der Handytaschenlampe den Heimweg anzutreten (bei Abschied bzw. als ich die Powerbank von seinem Smartphone abstöpselte, waren es gerade mal 18% Akkuladung, und man möchte das nicht nachstellen, ob das für eine halbe Stunde Serpentinenhölle abwärts ausreichend gewesen sein kann, 30 Minuten per Rennrad, wohlgemerkt, denn zu Fuß ist’s eher eine Sache von anderthalb bis zwei Stunden, im Hellen, versteht sich).
Wieder im Maiensäss angekommen, gibt’s noch ein paar Entspannungsübungen, einen letzten Sonnenuntergang und eine Dusche, dann wird die Tür von innen zweimal verriegelt – nicht dass nächtens noch ein Kardiologe aus Kiel klopft, wir wollen den letzten Abend unbedingt ungestört mit unseren Gnocchi, den beiden vierbeinigen Gefährtinnen und einem letzten Gesprächsmarathon verbringen.
Zu guter Letzt schneide ich mich beim Zerlegen der Mango, die vor der Heimreise noch weg muss ich als Dessert vorgesehen habe, ziemlich doof in den Daumen (Mangoschälen ist eh eine Zumutung und nur noch durch das Häuten von gekochter Roter Bete zu toppen), was mir einerseits den Abwasch erspart, andererseits am nächsten Vormittag das Packen und Putzen erschwert.

Wir lassen uns daher am Abreisetag drei durchgeblutete Daumenpflaster lang Zeit mit dem Zusammenräumen, schieben noch eine Novaminsulfon 500, eine 60°C-Wäsche und einen 300-Höhenmeter-Lauf dazwischen (ein Hoch auf das Hochmoor!), drehen eine letzte Runde mit den Mädels (die Formulierung „kleiner Spaziergang“ ist erstmal tabu) und verabschieden uns nach etlichen vergurkten Vierer-Selfie-Versuchen am Nachmittag von vier in jeder Hinsicht intensiven Tagen.
Danke an den besten aller Freunde für die gemeinsame Zeit im Pretty Prättigau, tägliches (Rücken-)Training, klasse Konturenschnitt, alberne Almwiesenaktfotografie, das tapfere Tragen aller Kisten & so mancher Verantwortung – sowie für unzählige Stunden wunderbaren Aufs und Abs in Worten und Wegen.
Ich weiß nicht, steht Ibuprofen – vermutlich gesprochen wie „schwofen“? – schon als Tätigkeit im Duden? Die Aufzählung erweckt jedenfalls den Eindruck … ach ja, ein weiterer Vorschlag für den nächsten Duden wäre „matschieren“, was die Tätigkeit des Marschierens auf schlammigen Bergpfaden auf den Punkt brächte … 😉
Liebe Grüße & weiterhin gute Besserung für den Rücken!
Commentatore Spike
p.s.: Interessant wäre ja auch der Abenteuerbericht des Aufschneiders – äh Chirurgen – bei seinen Kollegen beim Dienstantritt am nächsten Morgen gewesen … aber der fällt ja ohnehin unter die ärztliche Schweinepflicht (oder wie hieß das noch?)
LikeGefällt 2 Personen
„matschieren“ ist super, das übernehme ich ab sofort in meinem Wanderwortschatz!
Was den Feierabendradler angeht, überlegten wir noch, uns bei Abreise eine lokale Zeitung zu kaufen, um zu gucken, ob dort was drinstünde…, haben dann aber lieber drauf vertraut, dass der Chirurg nicht wieder aufs Chrüz hinaufgefahren, sondern tatsächlich im Tal angekommen ist.
Liebe Grüße und guten Morgen 😇
LikeLike
Ich denke über den toten Bären nach… War’s was Süsses? Dann könnte es eine Bündner Nusstorte sein. Die Geschichte vom Kieler Chirurgen: Köstlich
LikeGefällt 1 Person
Ja, eine Art Nussschnitte war das, und ihre Bezeichnung klang so ähnlich wie „Totabärli“…
Liebe Grüße in die sprachwundersame Schweiz 🥰🇨🇭
LikeLike
Solche Abenteuer erlebt man nicht in der Stadt! Herrlich.
Liebe Grüße zu Dir.
PS: die Hütte könnte individuelles Hüttengeschirr vertragen, meinst Du nicht auch?
LikeGefällt 1 Person
Pretty Prättigau wäre noch malerischer, wenn die Hüttenkeramik komplett erneuert würde, das hast du gut erkannt 🤭😉💛
LikeGefällt 1 Person
Ich denk drüber nach….😉
LikeGefällt 1 Person
ich weiss ja, warum ich maximal um die Aussenalster stiefele 😂 Grüsse von einer „Fischköppin“
LikeGefällt 1 Person
Das war wohl ein Totenbeinli:
https://www.swissmilk.ch/de/rezepte-kochideen/rezepte/LM201012_34/totenbeinli-guetzli/
LikeGefällt 1 Person
Jaaa, das war es, aber ich schwöre, dass da irgendwo ein ö oder ä mit von der Partie war!
LikeLike
Totäbeinli im Original Bünderdialekt 🙂
LikeGefällt 1 Person
Dank dir, so hieß es wohl 🇭🇰😇
LikeLike