Gedacht Gehört Gelesen Gelitten Genossen Geplant Geschwommen Gesehen Gestaunt

Krähen, die auf Krauler kucken (I’d like to be under the sea).

In einem Magazinbeitrag über die Fron des Fruchtbarkeitsfinales, den ich ausnahmsweise zu lesen beginne, weil in der Unterüberschrift auch von Schlafstörungen die Rede ist, steht der schlaue Satz, dass man in dieser Zeit der Umstellung gnädig mit sich und seiner Unausgeschlafenheit sein solle, da der Mangel an Nachtruhe eine sehr häufige Begleiterscheinung „der Achterbahnfahrt der Hormone“ sei. Es folgt der Zusatz, dass man „als Frau schließlich schon Schlimmeres“ ertragen hätte und daher davon ausgehen könne, dass man auch dieses Übel tapfer durchstehen würde.

Geht’s eigentlich noch dämlicher?!?
Ich weiß es gottseidank nicht, denn ich habe den Artikel nach diesem Schmarrn nicht zuende gelesen. Das Einzige, was ich da als Frau habe, ist eine spontane Assoziation zu achterbahnfahrenden Hormonen, die mich (im Unterschied zu meiner Dauermüdigkeit) kurz, aber kräftig amüsiert.

Amüsiert bin ich auch von einer beruflichen Begebenheit, die ich hier nicht näher ausführen möchte und die sich zudem mittels eines hübsch minimalistisch gestalteten Kärtchens, das ich in der Kassenschlange wartend zufällig im Postkartenständer gegenüber entdeckte und sofort meinem Warenkorb beifügte, viel prägnanter zusammenfassen lässt als mir das verbal je gelänge.

Ich werde sie K. schicken, weil niemand mir in dieser Sache so sehr die Augen geöffnet hat wie sie, und weil sie überhaupt diese Angelegenheit so tapfer mit mir durchgestanden hat (mehr als kluge Analystin und Fragenstellerin, denn als Frau, aber trotzdem tapfer).

Tapfer muss momentan auch anderen Angelegenheiten getrotzt werden.
Der Great Reset wird unser gesamtes Leben verändern“ plärrt es megadeppert aus den Megafonen des Autokorsos, der sich allwöchentlich mindestens einmal vor unserer Haustür vorbeiwälzt.
Im Hintergrund, also auf der drüberen Seite der Theresienwiese, die Scheinwerfer des anderen Autokorsos, der aktuell fast täglich zu sehen ist: in einer ellenlangen Blechschlange stehen sie vor dem PCR-Testzelt und beim Impfzentrum an.
Ich lasse die Jalousien runter, schnappe mir das Akkordeon und übe leicht lustlos an der Lili Marleen herum. Der Akkordeonunterricht wurde bis auf Weiteres abgesagt, so stümpere ich vorerst alleine weiter.

Das Lieblingsschwimmbad ist erfreulicherweise weiterhin geöffnet.
Sie könnten auch gar nicht anders, sagt der Bademeister neulich zu mir. 25% der maximalen Besucherzahl dürfen sie hineinlassen, und weil sie das dürfen, müssen sie das auch, weil sie sich eine Schließung finanziell nicht erlauben können, weil sie nämlich keine Kurzarbeit beantragen können, weil sie ja amtlich offen haben dürfen, halt nur mit reduzierter Besucherzahl, was finanziell schlimm ist, aber eine Schließung wäre unter diesen Vorzeichen eben noch viel schlimmer.

Wegen der aufwändigen Zugangskontrollen haben sie zwischenzeitlich extra einen Russen eingestellt, damit es beim Einlass etwas flotter funktioniert und die 25%, die vor dem Schwimmbadeingang in der Kälte anstehen, während der Wartezeit nicht zu 100% erfrieren.
Der Russe mag mich oder er mag den Blick auf mein Impfzertifikat oder meinen Personalausweis, denn jedesmal gurrt er mir mit rollendem R und begeistertem Ich-erkenn-dich-fei-wieder-Blick ein „Dobrý den, Natascha Irina“ entgegen. Ich hingegen bin weniger begeistert, dass dadurch alle hinter mir Wartenden meinen vollen Namen erfahren, reiße mich aber zusammen, verderbe ihm seine kleine Freude nicht, nicke ihm bemüht freundlich zu, husche nach der Kontrolle hinein in das wärmende Entree und löse dort meine Eintrittskarte.

Bis ich ins Becken springe, sind meine Hände meist wieder halbwegs aufgetaut. Dank einer Neuentdeckung lässt sich das Schwimmjahr bislang äußerst gut an: Auf einem der großen Flutlichtstrahler sitzt seit Jahresanfang jedesmal, wenn ich im Wasser angekommen bin und mit dem Rückenschwimmen beginne, eine Krähe. Sie hockt dort ganz allein, an der vorderen Kante des Stadionscheinwerfers, und von dort meditiert sie hinab in das 50-Meter-Becken.

Bahn für Bahn gucke ich zu ihr hinauf und sie zu mir hinunter, und sobald ich mit dem Kraulen anfange, verändert die schwarze Späherin dort oben ihre Sitzposition und dreht mir ihren Rücken zu, wahrscheinlich kann sie meine mittelmäßige Technik in dieser Lage nicht mitansehen.
Am Schluss, wenn ich brustschwimmend erneut zu ihr hinaufsehen möchte, ist sie weggeflogen. Jedesmal. Vielleicht verschwindet sie genau in dem Moment, in dem ich meine Flossen ausziehe und am Beckenrand ablege, das werde ich noch herausfinden.
Wofür auch immer das wichtig sein mag, dass ich diese Corvidae-Choreographie studiere – irgendetwas hat mich an solch winzigen, wiederkehrenden Phänomenen schon immer fasziniert und beruhigt.
Ohnehin wäre es längst mal an der Zeit für einen Beitrag über die stabilisierende Kraft und die sich entfaltende Eigendynamik von Wiederholungen, Gewohnheiten und Ritualen (und wie diese idealerweise zu dosieren wären, damit sie sich in ihrer Wirkung nicht ins Gegenteil verkehren).

In Sachen Bewegung habe mich offenbar noch immer nicht erschöpfend wiederholt oder durch Wiederholungen endgültig erschöpft.
70x Schwimmen im verflossenen 2021, und das trotz 5-monatigen Lockdowns des Beckens, darüber hinaus erstaunliche 60 Läufe, mindestens die Hälfte natürlich wegen des gelockdownten Bades, genau wie die paar Yoga-Einheiten.
Und Bergtouren beinahe so viele wie das Jahr Wochen hatte oder das Oberland Gipfel. Da darf das Knie dann schon mal knarzen.

In 2022 werde ich diesbezüglich kürzer treten. Nicht wegen des Knies und auch nicht wegen der Lektüre, die ich momentan am Wickel habe und die sich ausführlich dem Aufhören widmet, sondern weil ich die Aktivitätsakzente ein klein wenig anders setzen möchte.
Auch dem älterwerdenden Fräulein zuliebe will ich das tun, um weiterhin so viel wie möglich gemeinsam mit ihr unternehmen zu können.

Ab und an unterbricht sie derzeit ihr Älterwerden mit einer Art Hommage an ihre Welpenzeit: nämlich durch regelmäßige Schnullerfunde, die sie total hinreißend zu zelebrieren versteht (leider ist die Kamera nie schnell genug zur Hand in solchen Momenten und daheim nachgestellt ist es einfach nicht dasselbe).

In einem ähnlichen Turnus wie die Dackeldame ihre Schnullerfunde macht, finde ich kleine Veränderungen an ihrem Hundekörper, die mich mal mehr, mal weniger intensiv beschäftigen.

Um manches auch ohne Hinzuziehen eines Veterinärs besser einordnen zu können, befasse ich mich erstmals konkreter mit der doch etwas speziellen Anatomie des Teckeltorsos und bin beinahe beleidigt, als ich in der Skizze die Bezeichnung „falsche Rippen“ entdecke.
Angeblich vier an der Zahl wurden da im Innenbereich verbaut!
Das klingt billig und nach Plagiat, dabei gibt es wahrlich wenig Originaleres (und Originelleres) als so einen Dackel.

Und sonst so?
Es herrscht der übliche urbane Stroboskopwinter: Puderzucker drauf, Puderzucker weg. Zackzack, im munteren Wechsel. Manchmal binnen weniger Stunden, gelegentlich mehrfach am Tag.
Schneit es spätabends, wetzen gleich ein paar Menschlein hinaus auf die Wiesn und bauen einen Schneemann.
Tags drauf hacken hungrige Krähen den Gesichtserker und andere Verzierungen wieder aus ihm raus und nur selten vollzieht sich am kläglichen Schneemannrest eine solch bemerkenswerte Metamorphose wie vorgestern:

Sofort hatte ich bei diesem Anblick die Beatles im Ohr, bemerkenswerterweise zunächst den falschen Song: „Little darling, I feel that ice is slowly melting“ statt „I’d like to be under the sea, in an octopus’s garden in the shade“ .
Naja, ich bin eher der Stones-Typ, höre die Beatles einfach zu selten, weil ich nur zwei Dutzend ihrer Lieder wirklich mag, und dieses hier zählt nicht unbedingt dazu („Here comes the sun“ hingegen schon).

Mir sind ja bislang nur selten Menschen begegnet, die die Beatles und die Stones gleichermaßen mögen, meist besteht da eine recht eindeutige Präferenz.
N. gehörte zu diesen Menschen, er mochte beide gern. Seine Beatles-Lieblingslieder glichen allerdings nie den meinen, überhaupt waren wir uns in Geschmacksfragen lediglich bei Streuselkuchen, einer Handvoll Johnny Cash-Songs sowie der Top Ten-Platzierung der intrigantesten Kollegen unserer Firma einig.

Heute Abend, in etwa zu dieser Stunde, jährt sich dieser Todesfall zum sechsten Mal. Zwar war es wohl eher ein Todessturz, aber was macht das schon für einen Unterschied. Auch die Tatsache, dass er die Welt exakt 50 Jahre nach Giacometti verlassen hat, spendet keinerlei Trost, schon gar nicht dem Verblichenen selbst.
Tot ist tot, da gibt es nichts schönzureden, das muss man aushalten lernen.
Nach sechs Jahren stelle ich nun eine glimpfliche Gewöhnung an diesen Jahrestag fest, gewissermaßen verblasst der Verblichene allmählich auch in der eigenen Erinnerung.

Irgendjemand hat ein kleines, rotwangiges Engelchen an einen Zweig des krummgewachsenen Lorbeers auf Ns Grab gehängt. Ihm fehlt ein Flügel, weshalb es so schief an dem Ästlein hängt, dass es wohl in Kürze herabfallen wird.
Vielleicht auch schon herabgefallen ist, denn es war der zweite Weihnachtsfeiertag, an dem ich das Engelchen dort baumeln sah, aber nicht anders zu befestigen wagte.

Damit dieser Beitrag nicht erneut mit einer Tendenz zu trostlos endet, blättern wir abschließend noch flink durch den Katalog der schönen Seiten des Lebens und schauen mal, ob wir da nicht fündig werden…
Voilá, da haben wir’s schon: die Krapfenzeit hat begonnen!

Zwar noch nicht mit vollem Sortiment bzw. der von mir bevorzugten Sorte, aber zum Warmessen tut’s einstweilen auch die marillenbefüllte Variante.
(Man muss das ja erst wieder üben: den Erstbiss so zu setzen, dass nirgends was rausquillt / genießerisches Ausatmen nur, wenn sich das Süßstückchen fernab des Puststroms befindet / würdevolles Aufessen, d.h. ohne Marmeladenspur am Kinn und Zuckerstaub aufm Latz.)

Ab Donnerstag werden wir dann die heißersehnte Hagebutte herzlich willkommen heißen, um nicht zu sagen: wir werden sie vor Freude auffressen.

9 Kommentare zu “Krähen, die auf Krauler kucken (I’d like to be under the sea).

  1. Gute Wünsche Dir, der wundersam berippten Hundedame mit klasse Foto, sowie auch der Erinnerung an den Betrauerten.
    Beatles und Stones!

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  2. Ich mag Beatles und Stones gleichermaßen, die Beatles vielleicht ein bisschen mehr, und habe von beiden alle Scheiben.

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  3. … was nun aber die zelebration des schnullerfindens angeht: selbst die nur nachgestellten bilder sind in einem solchen maße herzerwärmend, dass bei akut geschnappschossten schnullerfindefotos vermutlich eine an jenen oktopoid hingeschmolzenen schneemann gemahnende form- bzw aggregatzustandsveränderung meinerseits durchaus im bereich des höchst wahrscheinlichen läge …

    mit innigsten grüßen zur guten nacht
    an fräulein pippa und frau kraulquappe:
    pega

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  4. Einen wunderbaren Januar-Blues hast Du serviert. Als Mann ohne russische Wurzeln gefällt mir das Dobre Natascha Irina besonders. Der Rabe fliegt weg weil es zu dieser Zeit hell genug wurde und er seine Freunde trifft. Der Mantel der Dackeldame ist sehr modern und exquisit. Danke tom

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  5. Den Satz mit den erschöpfenden Wiederholungen und den wiederholenden… Sie wissen schon, habe ich dreimal gelesen. Nicht, weil ich ihn beim Erstlesen nicht verstanden hätte, sondern weil er so wunderbar ist.

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  6. Im ersten Augenblick las ich ein ‚a‘ statt ‚u‘ im letzten Wort des Titels und bin froh, mich verlesen zu haben.
    Pippas heimliche Freude kenn ich nun. Das macht künftige Päckcheninhalte vielfältiger.
    Ein lieber Gruß zu Euch.

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