



Da möchte man sein im ICE zersessenes Gestell zur Abendstunde im Außenbecken des Holthusenbades noch etwas lockern und wieder ins Lot bringen und macht alles nur schlimmer. Schuld daran sind natürlich andere, in dem Fall die Kampfkrauler, die einem ein Tempo aufnötigen, das weder alters- noch abendgerecht war, dennoch schien die Sportschwimmerbahn die geeignetere zu sein, da der Rest des Schwimmbeckens von kreuz- und querschwimmenden Spätplantschern bevölkert war – dann doch lieber Geradeausschwimmen unter Sportstudenten, mit denen man nicht mehr mithalten kann.
Als ich mich halbwegs an die Geschwindigkeit gewöhnt habe, wechsle ich in die Rückenlage, schaue hinauf in den Himmel über Hamburg und will just den Gedanken zuende denken, wie wohltuend es doch ist, in solch rhythmischer Schwerelosigkeit durchs Wasser zu gleiten und wie dankbar ich darüber bin, in einem Land zu leben, in dem das an so vielen Orten möglich ist, da spüre ich plötzlich einen harten, dumpfen Schlag auf meinem Hinterkopf, der mir fast das Bewusstsein raubt.
Ich bin mit dem Kopf gegen den Beckenrand gedonnert, klammere mich an selbigem fest und sehe für einen Moment nur noch Sternchen, freilich nicht die des Nachthimmels. Vor lauter Mithalten mit den Mitschwimmern hatte ich vergessen, dass ich mich nicht im heimischen 50-Meter-Bad befinde und auch nicht bemerkt, dass man im hiesigen Freibad auf das hilfreiche Drahtseil über dem Schwimmbecken verzichtet, das einem anzeigt: noch drei, vier Armschläge – dann musst du wenden.
Meine nächste Wahrnehmung nach dem Aufprall und dem Sternenmeer ist eine hanseatisch näselnde Stimme. Sie gehört dem Bademeister, der sich erkundigt, ob ich mich verletzt hätte, mir mit einer Taschenlampe den Scheitel absucht, gottseidank kein Blut findet und mir tröstend davon berichtet, dass ich nicht die Erste sei, der sowas widerführe – andere hätten sich schon das Handgelenk gebrochen. Na da ist man doch gleich froh, bloß mit einer Megabeule und Schädeldröhnen davongekommen zu sein.
Ein paar langsame Bahnen schwimme ich noch, dann trolle ich mich recht benommen in die Halle mit den Thermalbecken, dümple dort, in die Arme einer grünen Poolnudel geschmiegt, im warmen Wasser herum und beschließe, auf dem Nachhauseweg sicherheitshalber „Symptome Gehirnerschütterung“ zu googeln (was, nebenbei bemerkt, ergibt, dass ich an über der Hälfte der geschilderten Symptome bereits Monate vor dem Zusammenstoß mit dem Beckenrand gelitten habe, also schon länger mit einem erschütterten Hirn lebe).
Die erste Nacht in Hamburg ist eine rundum üble. Der hauptverantwortliche Ruhestörer sitzt allerdings nicht in meinem verbeulten Hinterkopf, sondern in der Küchenzeile des kleinen Appartements: in den Eingeweiden des Einbaukühlschranks haust ein bestialisch brummender Kompressor.
Die Ohrstöpsel helfen kaum, das Runterregulieren der Temperatur auch nicht und so liege ich Stunde um Stunde wach, hege Mordgelüste gegen das elende Elektrogerät, erinnere mich an unselige Nächte in südschwedischen Hotels, in denen ich seinerzeit Klimaanlagen umbrachte oder Hygieneauflagen erwürgte, und schlief irgendwann in den frühen Morgenstunden dann doch noch für die Dauer eines kurzen Alptraums ein.
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Letzte Woche berichtete ich dem Papa, dass ich für ein paar Tage nach Hamburg reisen würde, weil wir das Appartement, das der Gatte hier für die Dauer seines Forschungsaufenthalts zur Verfügung gestellt bekam, noch bis Ende des Monats nutzen können. Er wollte wissen, was ich dort so vorhätte und ich erzählte ihm von meinen Plänen, unter anderem davon, dass ich eine Architekturführung in der Elbphilharmonie buchen wolle, auf die ich sehr gespannt sei. Die Lebensgefährtin quakte dazwischen, dass sie dieses Bauwerk ja auch mal gern sehen würde und adressierte diesen Wunsch mehrfach in Richtung Papa, der wie immer starr auf seinem Stuhl saß und mimisch kaum eine Regung zeigte. Erst, als ich ihn direkt ansprach, ob ihn das nicht auch interessieren würde, das schwache Heben seiner Augenbrauen als Zustimmung interpretierte und gemeinsam mit der Lebensgefährtin laut darüber nachzudenken begann, wie solch eine Reise und Besichtigung für ihn organisiert werden könne, raffte er sich zu einer Reaktion auf und raunzte uns an, er habe in seinem Leben genug gesehen und außerdem habe er gehört, dass die Elbphilharmonie aus ellenlangen Treppen bestünde und das täte er sich auf keinen Fall mehr an, wie auch, denn er käme ja schon daheim nur noch mit Anstrengung von einer Etage in die andere.
Daraus ergab sich eine längere Unterredung über die generelle Gestaltung der noch verbleibenden Jahre, über einen in absehbarer Zeit anstehenden Auszug aus diesem Haus, das den sich verändernden Ansprüchen immer weniger gerecht wird, über Einrichtungen für betreutes Wohnen, über einen bedenkenswerten Ortswechsel vom Tegernsee zurück in die Stadt, kurz: über alle möglichen Optionen, die der letzte Lebensabschnitt bieten könnte, wenn man ihn nur bald einmal adäquat anpacken bzw. überhaupt einmal als solchen anerkennen würde.
Irgendwann erhob sich der Papa schwerfällig von seinem Stuhl, stand wacklig neben dem Esstisch und drehte sich, immer eine sichernde Hand an der Stuhllehne, mühsam um 180 Grad und setzte sich langsam in Bewegung.
„Eigentlich wollte ich ja nur sagen, dass ich mir die Elbphilharmonie nicht mehr anschauen werde“ , beendete er müde und ohne sich zu mir und der Lebensgefährtin umzudrehen diese unsere Unterhaltung und schlurfte die paar Meter Richtung Küche, um dort seine allabendliche Dosis Medikamente einzunehmen.
Vielleicht ist es weniger an ihm, sich zusammenzureißen und dazu aufzuschwingen, weiterzumachen mit dem Aufnehmen von Neuem, vielmehr ist es wohl an mir, damit aufzuhören, ihn zu diesem Weitermachen animieren zu wollen.
Er hat viel gesehen von der Welt, der Papa, und womöglich ist die passende Frage gar nicht die, ob das nun genug war oder ist für (s)ein Leben, sondern die, wie und wann man seine Augen dann auch mal zumachen darf.
So ungefähr mäanderten meine Gedanken, nachdem ich zwei Stunden mit offenen Augen und dauerstaunend durch die Elbphilharmonie gelaufen war (in der Tat über sehr viele Treppen, die sich durch das Innere dieses Konzerthauskolosses winden) und schließlich bei einem Getränk in der Störtebeker-Stubn saß und hinaus auf den Hafen blickte.
Was für ein architektonisches Kunstwerk!
Die einem Wassertropfen nachempfundenen tschechischen Lampen in den oberen Etagen, die elliptischen Fenster in der gewellten Fassadenfront mit dem faszinierenden Siebdruckmuster, die Wände im kleineren der beiden Musiksäle aus wellenförmigem, französischem Eichenholz, so organisch, so sinnlich und weich, dass man sich am liebsten hineinlegen möchte, was natürlich nicht geht, da es sich ja um eine Wand handelt, aber immerhin mit der Hand kann man vorsichtig über diese hügeligen Holzwogen streichen und dabei ihren nussigwarmen Geruch einatmen.
Ein großer Genuss, das gesamte Gebäude.
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Danach drei Stunden nur gelaufen und geschaut.


















Zwischendrin wetterbedingt ein frischer Minzetee mit Honig und ein Stück Streuselkuchen, dazu ein langer Blick in die Tagespresse und ein kurzer Plausch mit einem Einheimischen, der am Nebentisch sitzt und wissen möchte, ob ich mich mit Absinth betäuben würde, um dem grauen Tag zu entfliehen.
Ich verneine das und beteuere, dass ich es eher zu halten gedenke wie die melancholische Brückenmaus und in Ruhe die weitere Entwicklung abwarten werde.



Als der Regen schließlich nachlässt, breche ich auf und spaziere noch eine weitere Stunde durch die Stadt.
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Wann schliefst du bis Mittag und wachtest auf ohne zu wissen, wo du dich befindest?
Dieser und anderen Fragen widmete ich den Abend, saß lange als einzige Besucherin im Keller der kleinen Galerie vor der Videoinstallation von Mariola Brillowska, wegen der ich diese Ausstellung aufgesucht hatte, ließ den Regen und die vielen Eindrücke des Tages draußen auf den nassgrauen Straßen der Stadt und die Endlosschleife der Bilder und Worte mit jener Langsamkeit, mit der einem eine Kontrastmittelinjektion durch die Venen kriecht, in mich hinein.
Erst in der Unbarmherzigkeit und Penetranz der Wiederholung entfalten manche Fragen und die Nicht-Antworten, die es auf sie gibt, ihre geradezu kathartische Wirkung.
Das wäre an sich ein wundervoller Schlusssatz, wüsste man nicht genau, dass einen, wenn das so stehenbliebe, alsbald die eine oder andere besorgte Bemerkung erreichen würde, deshalb lassen wir das lieber nicht so stehen, sondern ergänzen, dass der monologisierenden Monotonie in den Galeriegewölben eine äußerst abwechslungsreiche Unterhaltung mit der netten Galeristin folgte, die einen etwas zu starken Kaffee für uns kochte, der uns, umgeben von der bunten Opulenz des Entrées, sehr angeregt und ausführlich miteinander sprechen ließ, und das, obwohl ich ja wegen des dauerbrummenden Kühlschrankes in der Nacht zuvor bestenfalls drei Stunden geschlafen hatte und dachte, ich würde spätestens am frühen Abend fertig sein mit der Welt.


Die kreuz- und querschwimmenden Plantscher heißen hier im Freibad in der benachbarten kleinen Stadt an der Elbe despektierlich „Treibholz“. Im beheizten Bad, welches nur von Mai bis September geöffnet ist, gibt es eine „Kraulerbahn“ für die Hardcoreschwimmer und ein Bahn für „reduzierte“ Sportschwimmer, die sich nicht vom Treibholz stören lassen wollen. Insofern wird hier allen Schwimmern Rechnung getragen.
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Sehr schöne Lösung, das kenne ich in der Differenziertheit sonst nur aus Skandinavien.
Mein Stammschwimmbad in München ist erfreulicherweise so groß, dass man sich meist nicht ins Gehege kommt.
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mein Mitgefühl für deinen Kopf…
danke für die tollen Bilder…
lg wolfgang
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Danke ebenfalls & bitte, gern!
Liebe Grüße von Natascha
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Ach Gott, Deine Überlegungen über den Zustand des Vater erinnern mich an meine über den Zustand meiner Eltern, deren Leben ebenfalls nur noch um einen Esstisch herum stattfindet. So lange Mama noch selbst einkaufen kann und Papa die Finanzen im Griff hat, sind die Probleme zu bewältigen. An die Frage nach dem irgendwann nötigen „wie weiter?“ wagt sich bei uns niemand heran. Ich bewundere Deinen direkten Zugang zum Thema, auch wenn der Papa sich sträubt. Sie hängen halt am Vertrauten, denke ich.
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Hab vielen Dank für deine Worte, da hast du also ganz Ähnliches zu bewältigen mit deinen Eltern…
Hier ist das trotz meiner Direktheit schon auch so, dass sich niemand an diese „Wie weiter?“-Frage rantraut, und dass ich das immer mal wieder etwas hartnäckiger was zu regeln versuche, liegt auch an der komplizierten Familiensituation: ich bin als Einzelkind irgendwann für alles rund um den Papa alleine zuständig, dummerweise müssen Lösungen her, die auch die Lebensgefährtin mit berücksichtigen und auf Seite der Lebensgefährtin gibt es zwei Söhne, die komplett die Augen verschließen vor dem, was da in absehbarer Zukunft kommen kann/wird.
Aktuell habe ich beschlossen, erst in einem halben Jahr wieder nachzufassen, mich verschleißt das sonst zu sehr.
Liebe Grüße in die Schweiz!
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