Gelitten Gesorgt Gewerkelt

Alles neu macht der Mai oder: Fraktur, Ruptur, Aufruhr.

Wollte mir das X am Himmel über der Patrona Bavariae etwas sagen?
Sollte das eine Warnung sein? Oder ein Hinweis darauf, dass so ziemlich alles, was ich mir für den Mai vorgenommen hatte, alsbald ausgeixt werden würde?

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Meine Mitarbeit in der Notunterkunft für Geflüchtete fand ein etwas abruptes Ende – wir haben jetzt nämlich zuhause ein Lazarett, um das zu kümmern meine Kapazitäten ziemlich fordert und erschöpft. Immerhin eines, in dem Dolmetscher entbehrlich und Schlafplätze komfortabler sind und die Notlagen insgesamt überschaubarer.

Kaum die erste laue Mailuft inhaliert und der düsteren Kulisse des Krieges ein paar bemühte Lichtblicke entgegengesetzt – eine erste Bergtour nach längerer Pause, ein erstes Konzert nach gefühlten pandemischen Ewigkeiten, ein erster Plan für sowas wie Sommer und Urlaub -, da tut es einen dumpfen Schlag, und alles ist anders.

Das Dackelfräulein wurde auf einem Parkplatz am Starnberger See angefahren, während sie im Schatten unseres Autos stand und darauf wartete, einsteigen zu dürfen. Nahezu zeitgleich riss sich der Gatte, der unserem kleinen, unter die Räder bzw. das Vorderrad geratenen Hündchen zu Hilfe sprang, bei dieser beherzten Aktion die Achillessehne.
Wirklich Schuld hatte daran niemand, was mental von Vorteil sein mag, monetär aber von Nachteil ist. Denn ohne Schuld springt keine Versicherung ein und man darf zusehen, wie man alleine mit dem dummen Zufall und dem Zaster, den jener im Schlepptau hat, zurechtkommt.

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Die Schreckensnachricht erreichte mich, als ich gerade über die Wittelsbacher Brücke radelte, von dort hinunterblickte in die rundum ergrünten und von Sonnen- und Lebenshungrigen bevölkerten Isarauen und den Gedanken dachte, dass es ja vielleicht trotz der Kriegsgeschehnisse möglich sein würde, ab und an sowas wie einen unbeschwerten Sommer zu empfinden.

Es ist etwas Schlimmes passiert und du musst sofort nachhause kommen!“ , lauteten die ersten Worte des Gatten, der unter Schock stand und mit einer völlig verstörten Pippa auf seinem Schoß auf dem Weg nach München war.
Der Unfallverursacher brachte ihn heim, weil er mit dem Sehnenriss nicht mehr fahrtüchtig war, ich fuhr wie in Trance ebenfalls heim, um die beiden dort in Empfang zu nehmen.
Auch das Fräulein konnte nicht mehr laufen, sie wimmerte entsetzlich, als ich sie versuchsweise auf den Boden setzte.
Weil mir klar war, dass wir für alles Weitere unbedingt unser Auto benötigen würden, das aber noch am Seeparkplatz in Starnberg stand, bat ich den Unfallverursacher, uns umgehend wieder dorthin zurückzufahren.

20 Minuten Zeit, um auf der Rückbank sitzend abzuklären: wo befindet sich die Starnberger Tierklinik, wo liegt das Krankenhaus, wen bringe ich zuerst wohin? In Windeseile noch meine für den Tag drauf geplante Fahrt nach Wien storniert, das Fräulein würde keinesfalls diese Reise antreten können und den Gatten konnte man in dem Zustand natürlich auch nicht allein lassen.
Von einer Minute auf die andere war aus dem vorgeblichen Wonnemonat ein mieser Mai geworden, den man getrost in Gänze in die Tonne kloppen konnte.

Das Dackelchen wurde dem üblichen Unfallfolgenabklärungsprogramm unterzogen: Röntgen, Ultraschall, Blutbild, Spritze gegen die Schmerzen, Infusion zur Kreislaufstabilisierung.
Der Gatte bekam in der Notambulanz ein paar Bilder und Spritzen weniger.
Beide hatte es am linken Hinterlauf erwischt. Beide mussten am nächsten Tag in München zur genaueren Diagnostik und Weiterbehandlung zum Facharzt gebracht werden.

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Was das Fräulein angeht, folgte ein Alptraum, wie ich ihn in zehn Jahren Hundhaben noch nicht erlebt hatte. Beckenkammbruch, Prellungen, Unfalltrauma, Schockdarm, dazu ein Kreislauf, der sich einfach nicht stabilisieren wollte. In Folge dessen Erbrechen, Futter- und Wasserverweigerung, bald die Gefahr einer Dehydrierung.
Teils mehrfach am Tag zur Tierklinik gefahren, den immer apathischeren Hund hinten auf der Rückbank, irgendwann auf Anraten der Tierärztin die schwere Entscheidung treffen müssen, sie für einen Tag stationär dort zu lassen.

Sie wollen das – zumindest wenn Sie selbst Hundehalter sind und sowas noch nicht erlebt haben – nicht näher wissen, wie sich das anfühlt, und Sie wollen auch nicht wissen, wie es auf so einer Intensivstation zwangsläufig zugeht.
Da jammert und jault immer einer, da ist an Ruhe und Schlaf nicht zu denken, dauernd fummelt jemand an einem herum, den man noch nie gesehen hat.

Es ist eine hervorragende Tierklinik mit hervorragenden Ärzten, das repetiert man nahezu minütlich in der schlaflosen Nacht und man zählt die Stunden, bis die Stationsärztin morgens zur vereinbarten Zeit anruft und berichtet, ob die Dauerinfusion was gebracht hat und ob das Fräulein endlich wieder was frisst. Leider verschlechtert sich ihr Zustand und aus einer Nacht in der Tierklinik werden schließlich drei Tage und drei Nächte. Dazwischen bekommt man Botschaften wie „sie wirkt sehr in sich gekehrt“ und „Abholen nur auf eigenes Risiko“ und „hier ist rund um die Uhr jemand da“ .

Das Hauptproblem ist längst nicht mehr der Bruch am Beckenkamm, sondern der Magen-Darm-Trakt, der in Folge des Traumas und eines völlig überforderten Immunsystems verrückt spielt und sich entzündet hat.
Irgendwann schlägt das Antibiotikum endlich an, Erbrechen und Durchfall enden und unsere Tierärztin, die sich vor Ort persönlich um Pippa kümmert, meint am dritten Morgen: „Pippa hat mich erkannt, sie hat sogar kurz gewedelt und sie hat nun gottseidank ein bisschen was gefressen.

Als ich das Fräulein in der Klinik abhole, kommt mir ein abgemagerter Hund entgegengestakst, der mich mit aus zwei glanz- und kraftlosen Augen mit einem leeren Blick ansieht. Ein Blick, der so neu und so schlimm ist, dass mir fast das Herz stehenbleibt.
Ich hebe sie auf ihren Platz im Auto, sie leckt mir einmal über den Handrücken, kippt zur Seite und schläft sofort ein.

Es dauert etliche Tage, um den kleinen Hundekörper wieder ein bisschen aufzupäppeln.
Und es wird noch Wochen dauern, bis sie sich erholt, bis der Bruch heilt, bis sie vielleicht und hoffentlich wieder der Hund ist, der sie vor dem Unfall war.

Wenn ich mal weinen muss, gehe ich vor die Tür oder irgendwohin, wo mich das Fräulein nicht sieht. „Sie müssen als Alphatier nun Sicherheit verströmen, dann wird das schon wieder“ hatte die Tierärztin vorgestern beim Kontrolltermin gesagt.

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Auch ich habe an Gewicht verloren, was aber durch Sorge und Schlaflosigkeit locker aufgewogen wurde, die Sommerklamotten flattern luftig an mir herum wie ein Leintuch an einer Vogelscheuche.
Linksbeinig seit Tagen ein Solidaritätsphantomschmerz.
Was es nicht alles gibt.

Das Telefon ist zu einem Angstobjekt geworden. Erst hieß es „Wenn Sie nichts von uns hören, bedeutet das, dass sich Pippas Zustand nicht verschlechtert hat„. Klingelt es dann doch, ist man sofort starr vor Schreck. Und hat es dann zweimal geklingelt, um eine Verschlechterung zu vermelden, hört man es anschließend auch dann klingeln, wenn es gar nicht klingelt, und selbst wenn es dann doch mal klingelt, um die mögliche Abholung anzukündigen, ist man bis dahin bereits so wundgewartet und krisendurchklingelt, dass man mit trockenem Mund seinen Namen kaum mehr zu sagen vermag, wenn man den Anruf entgegennimmt.

Die Zeit stand zwar nicht still in diesen Tagen, doch ich war wie aus ihr gefallen und nahm nur noch die Unterschiede zwischen Tag und Nacht wahr. Drumherum Menschen, die munter den Frühsommer feiern, Pläne schmieden, den ersten sommerlichen Sonnenuntergängen zuprosten. Der Stadtverkehr rauscht ungerührt weiter, die Weltpolitik ebenso, im Haus plärren Kinder, im Hinterhof Rasenmäher und nachts surren die ersten Stechmücken durch die städtischen Schlafzimmer, und ich höre sie alle, jede einzelne, möchte mir die Ohren zuhalten, darf aber das Telefon nicht überhören, falls es denn klingeln würde, also höre ich todmüde den Mücken zu oder ist’s ein Tinnitus, der da im Gehörgang trommelt oder das Geräusch, das der Streichbogen erzeugt, der unentwegt über die dünnen Nerven fährt und sie Stunde um Stunde noch dünner sägt?

Freunde haben es schwer mit mir in diesen Tagen.
Zum wiederholten Mal in meinem Leben stelle ich fest, dass ich nicht der Typ für herkömmlichen Trost bin und schon gar nicht der Typ für ebenso lieb gemeinte wie aus der Luft gegriffene Positivprognosen.
Jedes „Bald kommt Pippa nachhause“ oder „Alles wird wieder gut“ erzeugt in mir nichts außer Widerspruch oder Schweigen, denn keiner konnte das schließlich wissen, wann das Dackelfräulein nachhause durfte und ob es (geschweige denn „alles“) wieder gut wird.
Verbales Schulterklopfen für das, was man da grad schafft, Respektbekundungen und Zuspruch, man sei ja stark, auch in organisatorischen Belangen.
Nichts von all dem erreicht mich, ich fühle mich nicht ernst genommen, denke über Eigen- und Fremdwahrnehmung nach und wende mich dann wieder meiner Erledigungsliste zu.
Die Freundin bringt Kuchen und geschälten Spargel vorbei, der Freund lädt ins Lokal ein und schiebt das Fräulein im Fahrradkorb durch die Gegend, der Papa schickt etwas Geld, ruft jeden zweiten Tag an und fühlt sich nach Langem mal wieder wie der Papa, der er jahrzehntelang war.

Nein, ich bin kein Pessimist.
Ich bin Realist und froh über jeden, der genau das – die Realität – mit mir ertragen kann. Und der auch die Zumutung, die ich in solchen Zeiten bin, erträgt.
Der das aushält, die subjektiv empfundene Unerträglichkeit der Situation als das zu betrachten, was sie in dem Moment für mich ist: eine subjektiv unerträgliche Situation mit objektiv noch unklarem Ausgang.
Nicht viele halten das aus, in solchen Phasen bei einem zu sein und gemeinsam mit einem diesen Sumpf zu durchschreiten und dabei entweder zu schweigen oder zuzugeben, dass es ein Sumpf ist und dass man weder sagen kann, wie tief er ist oder wie breit oder wann und wo er endet und ob überhaupt.

Mein Jahrespensum an Tränen ist vergossen, mein Fassungsvermögen für Unglücksfälle ist erschöpft, ebenso das Budget.
Der Sommerurlaub ist storniert, alle Vorhaben für die nächsten Wochen und Monate verschoben, auf Eis gelegt oder ganz abgesagt.
Alle Überschriften, die man im Kopf hatte oder schon auf Papier notiert hatte, sind nun ausgeixt, neue sind noch nicht gefunden.

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Der Gatte liegt in der Klinik, die Sehne ist zusammengeflickt, der OP-Bericht verspricht volle Belastung sowie Aircast-Walker- und Krückenfreiheit in ca. 8 Wochen und eine vollständige Wiederherstellung der Mobilität nach 3 Monaten, ausgenommen sind Sprungsportarten, da dauert es 6 Monate, aber er hat sowieso nicht vor, jemals wieder in vergleichbarer Situation irgendwohin zu springen.

Morgen kommt er nachhause, dann geht es hier weiter wie in den präoperativen Tagen: zwei Patienten zu versorgen, sich so gut als möglich um alles kümmern, damit die beiden bald wieder gesund werden, nebenbei immer schön aufpassen, nicht selbst die Treppe hinunterzufallen oder auf dem Trottoir in eine Bananenschale zu tappen oder durch andere Imponderabilien noch mehr ins Schlingern zu geraten als man eh schon durch diese Wochen schlingert.

Nicht zu weit nach vorne schauen, und auch keinesfalls zurück, einfach die nächste Etappe angehen, kleine Schritte, kurze Gedanken, auf Sicht fahren, Listen schreiben, Listen abhaken, eins nach dem anderen und nicht zu viel parallel.

Um im Hier und Jetzt zu leben, braucht es keine kostspieligen Kurse, in denen irgendein Erleuchteter einem Achtsamkeits- und Atemübungen angedeihen lässt – das geht alles auch ganz ohne Seminar und Anleitung.

Heute ist Freitag.
Der 20. Mai 2022.
In München scheint die Sonne.
Das Fräulein läuft zaghaft (und wie es scheint: schmerzfrei) geradeaus.
Ich laufe einigermaßen angstfrei neben ihr her und bin froh über jeden ihrer kleinen Dackelschritte.
Auf der riesigen Freifläche vor der Haustür laufen die Aufbauarbeiten für das große Fest der Virenverteilung im September, vor dem wir nun nicht wie gewohnt werden fliehen können.

Aber wer weiß das schon, was bis dahin ist und was einem dann wichtig oder unwichtig geworden sein wird.

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(Die Kommentarfunktion unter dem Beitrag habe ich ausnahmsweise mal abgeklemmt, weil ich weiß, dass ich es momentan nicht schaffen würde, Ihnen angemessen zu antworten. Ich bin ganz sicher, Sie wünschen uns das Beste, und Sie dürfen sich Ihrerseits sicher sein, dass ich Ihnen das ebenfalls wünsche. Nein, ich missverstehe ein „Gefällt mir“-Sternchen nicht als Hohn oder Blindheit. Und ja, es wird auch weitergehen mit diesem Blog, so wie es auch mit diesem Sommer weitergehen wird und mit dem Leben überhaupt.)

3 Kommentare zu “Alles neu macht der Mai oder: Fraktur, Ruptur, Aufruhr.

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