Die Wochen vergehen in einem seltsam zeitlosen Zustand. Mal haste ich in einem Affenzahn durch den Tag, mal bin ich ganztags im Schneckentempo unterwegs, mal habe habe ich überhaupt kein Zeitempfinden mehr.
Der Nachtschlaf hat sich zuverlässig auf ein eng geschnürtes Paket von vier bis sechs Stunden eingependelt, vielleicht ist es da nach einigen Monaten völlig normal, dass man etwas desorientiert durch seinen Alltag tappt.

Heute vor einem Monat geschah der Unfall.
Wie heftig diese Erfahrung war, wie sehr sie uns erschüttert hat, das habe ich erst nach und nach begriffen.
Eine spürbare Zäsur war das, nur was da durchschnitten/getrennt wurde, ist noch nicht greifbar, aber erste Ahnungen ziehen allmählich auf.

Am Tag nach dem Unfall blieb meine Skagen-Armbanduhr stehen, erst gestern habe ich beim Uhrmacher eine neue Batterie einsetzen lassen. Ich kam nicht eher dazu. Hat schon gepasst so, die Zeit stand ja oft still. Was man damit eigentlich meint, ist die eigene Erstarrung, weil das lebbare Leben mit den darin enthaltenen relevanten Fragen und Antworten auf Briefmarkengröße zusammengeschrumpft ist: wie wird der heutige Tag, wie läuft das Fräulein, wie läuft der Gatte, wohin laufe ich zuerst und wie krieg‘ ich die Tagesliste erledigt ohne mich zu verlaufen.

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Erstarrung auch in manchen Verbindungen, als wären die Anfang Mai gleich mit verunfallt.

Wenn einem nur noch was gewünscht oder für einen was gehofft wird, dann heißt das wohl: da will es jemand lieber nicht mehr so genau (oder gar nicht mehr?) wissen, wie’s wirklich um einen bestellt ist, sei es, weil er/sie nicht umgehen kann mit der Krise des anderen (vor lauter Gekreisel ums Eigene oder Erschrecken übers Fremde?) oder weil’s unmöglich oder unerträglich ist, die Verzweiflung des anderen ernst- oder anzunehmen (vor lauter unausgesprochenen Urteilen: was hat der/die denn? der/die soll sich mal nicht so anstellen! wieso so kompliziert? das wird doch wieder!).

Nichts mehr gefragt zu werden von denen, denen man so gern alles antworten möchte, das war im mitmenschlichen Miteinander schon immer eine der Höchststrafen für mich.
Eine Weile vertrete ich mich in diesem Prozess stets selbst, versuche herauszufinden, wie eigentlich die geheime Anklage lautet, probiere, mich ungefragt zu erklären, halte meine Plädoyers, doch es kommt der Punkt, an dem ich das Mandat ans Fatum abtrete. Oder an den Faktor Zeit.
Manchmal muss ja nur etwas Zeit vergehen und dann geht’s an irgendeinem anderen Punkt wieder weiter (besser, schlechter, anders?).

Nur heilt die Zeit manche Wunden ebensowenig wie ein Loch im Gewebe sich von selbst flickt. Kratzer und Kerben, die in oder durch Krisen entstanden sind, sind auch nach einer Zeit, die vergangen ist, noch als Kratzer und Kerben sichtbar. Je nach Tiefe kommt man entweder mit etwas Oberflächenpolitur davon oder es hat die Grundierung erwischt und man muss nochmal richtig ran an die versehrte Stelle, damit sie nicht doch Rost ansetzt und gröbere Schäden nach sich zieht.

Jedenfalls darf man dem ganzen Gewünsche und Gehoffe seinerseits mit spärlichen Informationen oder auch mit völligem Schweigen begegnen, dann bleibt das Wesentliche eben diffus und der Wünscher/Hoffer braucht sich nicht weiter rumplagen mit konkreteren Details der ohnehin schon elenden Jammerei oder dem jämmerlichen Elend des Bewünschten/Behofften.

Verstehen Sie mich nicht falsch: freilich ist es in Ordnung, einander Gute Reise, Gute Besserung, Gute Nacht oder auch mal Gute Nerven zu wünschen. Ebenso nehme ich natürlich an harmlosen Hoffnungsäußerungen wie Hoffentlich kannst du heute Nacht mal länger schlafen oder Hoffentlich kommst du ohne Stau nachhause keinerlei Anstoß.
Kritisch wird es erst, wenn durch ein zu Viel an Hofferei und Wünscherei jegliche Frage umgangen wird. Auf Dauer ist es nämlich ein immenser Unterschied, ob jemand wissen will, wie es einem geht oder fortwährend nur herumhofft und -wünscht, es möge einem gut gehen.

Wenn Kommunikation sich erstmal verheddert hat in einem Gestrüpp aus Konjunktiven und Kaffeekränzchenfloskeln, hilft es irgendwann nur noch, eine Heckenschere zur Hand zu nehmen, um wieder eine Sichtschneise freizuschneiden oder es eben weiter wuchern zu lassen und abzuwarten.
Ab und an möchte ich schreien vor Wut über diesen Wortwildwuchs, den wir so produzieren, doch dann reicht es nur für einen traurigen, trockenen Kloß im Hals.
Dazwischen starre ich stumm auf strahlende Urlaubsfotos und sommerliche Alles-roger-in-Kambodscha-Messages, mit denen man mich aufheitern oder mal kurz kontaktieren möchte und fühle mich leider viel zu selten in der Lage, etwas Adäquates darauf zu antworten.

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Wir Hobbypsychologen, die wir es gewohnt sind, im Flachwasser-Pool der Pathologisierung zu planschen und dort jeden (teils auch noch so profanen) Privatpups zu einer bombastischen Bubble aufzublähen, sollten vorsichtig bleiben mit Begriffen wie „Depression“, „Burnout“ und „Trauma“ und was wir nicht noch so alles uns selbst oder anderen mal fix attestieren, als Etikett draufpappen oder für therapiebedürftig deklarieren.

Trotzdem würde ich folgende Formulierung wagen: in unserem Rudel hat gerade jeder an einem kleinen Trauma zu knabbern – der Gatte, weil er mitansehen musste, wie das Dackelfräulein unter die Räder geriet, sich beim Zuhilfesprung die Sehne riss, das Hündchen, weil es angefahren wurde und weil es, als es ihm am schlechtesten ging, in der Klinik zurückgelassen wurde, und ich, weil ich Pippa in diesem Zustand dort lassen musste.
Wir träumen schlecht, wir sind gerädert, wir reden darüber, dass sich da in uns etwas festgehakt hat, das sich nicht durch Drüberreden entfernen lässt und das immer noch weh tut.

Dummerweise hat es das kleinste Rudelmitglied mit dem Doppeltrauma erwischt. So ein sicherer und selbstbewusster kleiner Hund war sie, und nun wirft sie sich panisch in die Böschung, wenn ein harmloses Forstfahrzeug hinter uns herantuckert, duckt sich auf den Gehweg, wenn ein Auto sich nähert und schaut sich überhaupt bei jeglichem Fahrgeräusch ängstlich um – und dann zu mir hoch.

Für das Fräulein muss ich jetzt Sicherheit und Stabilität verkörpern, beides gerade in mir selbst nur schwer auffindbar, aber hier darf man wohl wirklich auf den Zeitfaktor setzen, denke glaube hoffe ich.
An etlichen Tagen schlurft das Fräulein mit recht wenig Lebensfreude langsam neben mir her, so dass mir ganz flau wird, daheim humpelt der Gatte durch die Wohnung, Tag 32 mit Skischuh Orthese und auf Krücken, und täglich sagt man sich: Zähl nicht die Tage, die noch zu durchhumpeln sind, sondern freu dich an den kleinen Fortschritten! Bewerte nicht ständig irgendwas und schiel nicht nach Abkürzungen oder Verbesserungen, sondern nimm dir ein Beispiel an der Nacktschnecke, der du neulich morgens am Tegernsee begegnet bist!

Mit Stoizismus und Selbstvertrauen kroch sie über den einzigen Stein, der weit und breit auf dem Weg zu sehen war. Staunend blieb ich stehen, sah ihr dabei zu, wie sie sich an dem Hindernis abplagte und fragte mich: Warum tut die das? Links und rechts, davor und dahinter ist doch alles frei!

Nun, entweder tat sie’s, weil sie eine Traceurin ist, der es nunmal ein Bedürfnis ist, den direktesten Weg von A nach B zu nehmen, die Hürden auf dieser Strecke als sportliche Herausforderung zu betrachten und daher Freude daran hat, ihren Nacktschneckenkörper schwungvoll darüber zu schwingen.
Oder sie tat es, weil das „ihr“ Stein war, „ihr“ Hindernis, das sie überwinden wollte, ja musste, Millimeter für Millimeter, in ihrem Tempo, auf ihre Weise, denn wenn sie es mal überwunden hätte, läge es hinter ihr und sie würde weiterkriechen, vielleicht mit ein paar Druckstellen in ihrem Nachtschneckenkörper, von der Anstrengung und weil Steine eben schmerzen können, wenn man drauftritt oder drüberkriecht, aber sie wüsste, dass sie nicht ausgewichen ist, sondern drüber weggekommen ist, und das würde sie in ihrem Nacktschneckendasein, das ja, wie der Name für diese Spezies schon besagt, ein recht schutzloses, weil nacktes ist, stärken und sie wappnen für weitere Steine, denen sie auf ihrem Weg noch begegnen würde.

Wussten Sie im Übrigen, dass Nacktschnecken ihr Haus in sich tragen?
Während ihrer Kindheit haben sie noch ein kleines Gehäuse, das dann aber im weiteren Wachstumsprozess reduziert und in den Weichkörper hinein verlagert wird. Als erwachsene Nacktschnecke tragen sie schließlich nur noch äußerlich unsichtbare Reste davon in sich und können sich somit nicht mehr zum Schutz in ein Haus zurückziehen. Eine morphologische Misere sondergleichen!

Bis zu dieser morgendlichen Begegnung hatte ich nicht die leiseste Ahnung von der ontologischen Obdachlosigkeit der Nacktschnecken.

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3 Kommentare zu “Traceurin on tour.

  1. Das mit der Nacktschnecke wusste ich. Ich werde sie aber trotzdem nicht wie Häuslschnecken behandeln.
    Zum Fräulein: Ich kann mifühlen. Der Her Kater schwächelt seit zwei Wochen und ich weiß nicht ob er es übersteht.

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  2. So gerne lese ich von Dir, Fräulein und Mann. Mit wunderbaren Geschichten lässt Du uns Teilhaben an Wasser, Freuden, Berge, Hundefreuden und Familie. Rückschläge und Unfälle kommen zum Leben. Wir alle knabbern daran. Vor drei Jahren hatte ich mit dem Auto einen nicht von mir verursachten Unfall, nur ein kleiner Blechschaden. Die Aufarbeitung mit Anwalt, Gericht und persönlichen Nachdenken hat mich zwei Jahre im Kopf gekostet. Die Kreuzung habe ich seither gemieden. Empfindsame Menschen kauen besonders an Rückschlägen. Ich wünsche Euch ein stetiges Aufwärts. Tom

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    • Tja, die schwersten Unfälle ereignen sich beim Zusammenprall mit der Wirklichkeit (frei nach Harald Schmidt), jedenfalls beinhaltet das Leben wohl so einige Kreuzungen und Parkplätze, an denen man sich zufällig zur falschen Sekunde aufhielt und es ist erstaunlich, wie lange man sich dann mit den Nachwirkungen dieser einen Sekunde abplagen darf/muss.
      Danke für die Aufwärtswünsche, es wird schon (hoffentlich) wieder!
      Natascha

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