Wir schreiben den 1. Mai 2023.
Es ist der erste Montagmittag einer malguckenwielangen Serie von Montagmittagen, an denen Sie hier zur Mittagszeit etwas lesen sehen werden, das gegen 12 Uhr von mir verfasst wurde. Ich schreibe bewusst sehen, denn womöglich gibt es nicht jedesmal etwas, das im eigentlichen Sinne von Ihnen gelesen werden braucht.
Hätte ich beispielsweise am Ostermontag oder letzte Woche montags etwas veröffentlicht, wäre es in dem einen Fall ein bloßer Gedankenstrich gewesen und das andere Mal nur ein Fragezeichen. Mehr wäre nicht drin gewesen.
Also drinnen hätte es sehr wohl was gegeben, aber draußen hätte das halt nichts verloren gehabt, weshalb ich es bei den genannten Satzzeichen belassen und Sie daher nicht viel Lesezeit gebraucht hätten.
Nun gut, genug der Vorrede. Ab sofort können Sie also montäglich zur Mittagsstunde hier vorbeischauen und dann sehen wir Sie schon, was dann da steht (bzw. dasteht). Jeweils das, was dem Dastehen Stand hält: einzelne Eingebungen, alltägliche Anwandlungen, flüchtige Flausen, Unverdautes, Halbgares, Ausgegorenes, Vergorenes, Kopfzerbrechungen von epochaler Komplexität oder sekundenhafter Schlichtheit.
Das Ei, aus dem die Idee zu diesem Blogblitzlicht geschlüpft ist, hat die Graugans gelegt, und da wir ja desöfteren in ähnlichen Gewässern schwimmen, brüten wir nun gemeinsam weiter, hier wie dort, jeden Montagmittag um zwölf.
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01.05.2023, 12 Uhr.
Ich sitze, noch ziemlich bronchial restverschleimt und hustend, aber ansonsten weitgehend wiederauferstanden nach etlichen Elendstagen, neben den gepackten Taschen, die ich gleich ins Auto verfrachten werde.
Es geht an den Tegernsee, schon wieder. Und das wird jetzt intensiver denn je so weitergehen.
Denn der Papa wird älter und schwächer und ist aber noch in der Welt, wie er’s neulich mal mit Nachdruck formulierte, als wir in einen unseligen Disput darüber verstrickt waren, was er durch seine Verweigerungshaltung (nicht den nächsthöheren Pflegegrad beantragen, nicht die Haushaltshilfe aufstocken, keine Pläne machen für Pflegeheimbesichtigungen, keinen Pflegedienst im Haus haben wollen – ja, eigentlich geht’s fast nur noch ums Nichtwollen, wobei auch darin ein Wille haust, halt einer, der verneint und ablehnt) seinem Umfeld zumutet (also der Lebensgefährtin, die zunehmend überfordert ist von all dem Aufwand, und mir, die ich immer öfter kommen und helfen muss).
„Du bist nicht allein auf der Welt!“ , fuhr ich ihn zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt dieser Diskussion an, und er entgegnete: „Aber ich bin noch in der Welt!“ .
Seine Betonung lag auf dem Ich und was er damit wohl meinte, dämmerte mir erst einige Zeit später. Es sind dies die Reste einer Selbstbehauptung, einer Selbstvergewisserung, einer Aufrechterhaltung eines alten Selbstbildes, gepaart mit der Angst vor Kontrollverlust und Fremdbestimmung – und vor einem Ende, das er zwar nicht gestalten, aber auch nicht einfach über sich ergehen lassen will.
Ich knie am Fußboden und ziehe ihm die Strümpfe an, wir sind das beide nicht gewohnt, eine derart nahe und intime Situation.
Intim, weil ich dadurch seine vor Wassereinlagerung ganz dicken Füße ja nicht nur sehen, sondern auch anfassen muss, wobei mir dann zwangsläufig auffällt, wie seine Zehen aussehen, und plötzlich ist da die Erinnerung, wie ich diese Zehen als Kind sah: völlig intakte Männerzehen waren das, weiche, große Papazehen mit gepflegten Nägeln.
Ich erinnere mich, wie ich sie manchmal anmalen durfte mit meinen Filzstiften, ihnen dadurch Gesichter verlieh und wie er die so entstandenen kleinen Figürchen wackeln und sprechen ließ und wir dabei lachten.
Blicke ich jetzt auf diese Zehen, erscheinen sie mir wie die abgestorbenen Äste eines riesigen Baumes, der gefällt wurde und ich bin froh, als es mir nach einigem Zerren und Zupfen gelungen ist, sie mit Socken zu umhüllen.
Zurückbleibt ein Gefühl des Beschämtseins: wieso greift mich der Verfall des Vaters eigentlich so an?
Und das Zuständigsein: er hat mir einst in die Welt hineingeholfen, nun helfe ich ihm aus der Welt hinaus.
Nach dem letzten Aufenthalt am Tegernsee bin ich krank heimgekehrt, diesmal fahre ich schon nicht gesund hin, vielleicht ändert das ja was. Oder es wird anders, weil diesmal nicht vorrangig der Papa auf dem Programm steht, sondern berufliche Termine, es wird also noch dichter dort, das passt prima zum aktuellen Empfinden in Kopf, Nase und Lunge.
Überhaupt habe ich es geschafft, ohne mir das je bewusst vorgenommen zu haben, einen größeren Teil meines Lebens in dieses enge Voralpental zu pressen, dort nun gewissermaßen vieles zu verdichten, wohin auch immer das führen wird.
Sicher nicht nur zu praktischen Vorteilen: denn 1 positives Berufserlebnis am Nordufer des Sees kann von 1 negativen Privaterlebnis an dessen Südufer unmittelbar ausradiert überlagert werden.
Ob das auch umgekehrt funktioniert, wird sich zeigen, vielleicht muss sich alles auch erstmal einspielen.
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Was schön ist: regelmäßig aus der Stadt rauszukommen.
Erst recht, wenn auf dem heimischen Schreibtisch das Mieterhöhungsverlangen des Vermieters liegt, selbst wenn der sich mit seiner ersten an den Verbraucherpreisindex angelehnten Mietzinsanpassung glatt mal um ein Jahr geirrt hat (zu seinen Gunsten, versteht sich), wahrscheinlich war die hohe Inflation derzeit einfach zu verlockend, denn um fast 10% kann man diese eh schon überteuerten Metropolmonstermieten ja selten zu erhöhen versuchen.
Unter dem Vermieterschreiben liegt immer noch der 16-seitige Fragebogen des Finanzamts, der wahrscheinlich nur zustande kam (so die Steuerberaterin, bei der ich nun endlich war), weil entweder der Sachbearbeiter gewechselt hat oder im Homeoffice keine Archiveinsicht möglich war, die dem Finanzbeamten nach zwei Klicks hätte verklickern können, dass – und vor allem: wie – der identische Fragebogen vor fünf Jahren bereits beantwortet und vom Fiskus dann auch so akzeptiert wurde.
Vor der Haustür tobt seit über einer Woche das Frühlingsfest, ohne Rücksicht darauf, ob eigentlich Frühling ist. Der ist nämlich nur stundenweise, doch bescheuerterweise fackeln die da auch bei 8 Grad und Dauerregen abends um 22 Uhr ein Riesenfeuerwerk ab, das das Dackelfräulein entsetzt von der Couch hochschrecken und sich bellend zur Wehr setzen lässt: Ja ist denn heut schon Silvester?
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Gibt es eigentlich noch Maikäfer? – frage ich mich, während ich die Regenjacke obenauf in den Rucksack stopfe und ein zusätzliches Pfotentuch einpacke.
Danke für diese aus dem Leben gegriffenen Gedanken und schönen Formulierungen! Möge das Dackelfräulein sich alsbald an die Knaller und das Feuerwerk gewöhnen, aber geht das überhaupt. Ich hoffe, es geht nicht aufs Herz! Viele Grüße und gute Besserung!
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Beim letzten Mal hab ich’s ganz versäumt, Ihnen zu antworten, dabei war das so ein wertschätzender Kommentar, der mich zutiefst gefreut hat. Das soll mir kein zweites Mal passieren, daher heute gleich ein Dankeschön für Ihren Kommentar.
Ja, das Dackelfräulein stirbt rund um und an Silvester fast, und zwar gar nicht mal so sehr wegen der Knallerei, die sie von der Couch aus ertragen muss, sondern vor allem wegen der tagelangen Vorböllerei (und Nachböllerei) plus all der irritierenden Lichter und Gerüche, die damit einhergehen. Ich hoffe inständig, der Unsinn wird eines Tages der Tierwelt zuliebe doch mal unterlassen (das Fräulein kann man ja zumindest in der Wohnung schützen, aber all die Singvögel nicht, dem einen oder anderen bleibt da ja tatsächlich das Herzchen für immer stehen).
Herzliche Grüße!
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Danke für die freundlichen Worte. Die Zeitentzerrung der Kommunikation im Schreiben gehört doch zu den Vorzügen!! Antworten, Bemerkungen kommen selten zu spät. Das arme Dackelfräulein, ich fühle sehr mit! So richtig erschließt sich mir der Sinn mit dem Geböllere auch nicht. Die arme Tierwelt, die ohnehin so viel zu leiden hat. Meine leider verstorbene Katze hat auch sehr gelitten. Sie kroch dann unters Bett, völlig verschreckt und starrte ins Nichts. Viele Grüße ins Wochenende hinein!
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Dein Vater.
Mitgefühlt und in Erinnerung nachempfunden.
Lieben Gruß!
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Dachte ich mir schon, dass du das sagst, lieber Reiner. Danke. Und viele Grüße zurück!
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danke fürs Lesen dürfen…
dem Vater aus der Welt hinaus helfen, schön gesagt, ich freue mich auf noch viele Leseundschaumontagmittage hier…
lg Wolfgang
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Herzlichen Dank, Wolfgang!
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Ich freu mich auf jeden wirwerdensehenwielange Montagmittag…
Liebe Grüße und Wünsche an Dich und die Deinen.
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Schaumermaldannsengmascho… – und liebste Grüße an dich/euch! 💙
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