
Das Dackelfräulein liegt im Sessel vom Papa und schläft, der Papa und ich sitzen am großen Esstisch und schweigen. Er liest Zeitung, ich arbeite am Laptop.
Es ist still im Haus, wir genießen das. Obwohl wir im Moment auch nicht reden könnten, selbst wenn wir wollten, weil der Papa für die nächsten Stunden Ober- und Unterkiefer aufeinanderpressen muss, damit die Tamponade die Wunde, die durch den vorhin gezogenen Backenzahn entstanden ist, desinfiziert und beruhigt.
Dass dem Papa heute beim ersten Biss in die Morgensemmel ein Backenzahn zerbrochen ist, passt wie die Faust aufs Auge: damit hat er sich als Erster erfolgreich aus der Affäre gezogen. Ein möglicher Diskutant weniger heute Abend, das könnte die Lage verschärfen.
Ohnehin darf mit Spannung erwartet werden, was als nächstes passiert, hier im Hause am Fuße des Wallbergs.
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Meine Arbeit geht nur schleppend voran, die Worte flutschen nicht, geschweige denn dass ein roter Faden für die Geschichte in Sicht wäre. Überhaupt schleppe ich mich eher etwas beschwerlich durch die Tage als dass ich leichtfüßig durch sie hindurchtänzelte.
Nach nur 48 Stunden im Exil ist gestern Abend ein erster Tiefpunkt erreicht. Innerlich kurz vor Abreise, äußerlich kurz vor Losbrüllen.
Die Lebensgefährtin des Papas, künftig G. genannt (G., wie das Großbürgerliche Grauen), entwickelt mit voranschreitendem Älterwerden verstärkt keifende, missmutige Züge. Früher war sie einfach nur laut und nervig, jetzt ist sie laut, keifend, miesepetrig und nervig.
Man möchte es kaum für möglich halten, was während eines lieben langen Tages so alles „falsch“ sein, Kopfschütteln und Kritik auslösen kann.
Nichts an mir scheint zu passen, nahezu jede Banalität ist ein Grunzen, Gemecker oder einen Kommentar wert.
– Wie kann man nur ständig zum Frühstück eine Breze essen? (Weil es mir schmeckt.)
– Warum hast du deine eigene Marmelade dabei, hier gibt’s doch auch welche? (Weil ich lieber eine nicht so überzuckerte Marmelade esse.)
– Was ist denn das für ein komisches Müsli? (Eines aus dem Bioladen, das ich mir von daheim mitgebracht habe.)
– Wieso nimmst du keine H-Milch in den Kaffee? (Weil ich H-Milch hasse.)
– Warum hast du dein eigenes Waschpulver dabei? (Weil ich diese süßlich stinkenden Waschmittel nicht riechen kann.)
– Wie kann man nur bei Nieselregen zum Laufen gehen? (Weil ich mich gern bewege und froh bin, dich dann eine Stunde weniger sehen oder hören zu müssen.)
– Wozu brauchst du den Staubsauger, das Studio wurde gesaugt bevor ihr kamt? (Weil wir nun den 6. Tag dort oben mit Hund wohnen und es gern sauber haben.)
– Warum nimmst du denn nicht meine Rinderbrühe für dein Risotto? (Weil ich diesen Glutamat-Hefeextrakt-Schrott niemals zum Kochen verwenden würde und in mein Gemüse(!)risotto prinzipiell keine Rinder(!)brühe reinkommt.)
– Wie unnötig, den Fenchel so kleinzuschneiden, das ist ja viel zu viel Arbeit! (Wer kocht heute? Du oder ich?)
– Warum presst du dir zwei Orangen aus, wir nehmen jeder nur eine? (Wo ist das Problem? Hab mir ein ganzes Netz voller Orangen mitgebracht und teile es gern mit euch.)
– Was soll jetzt an deinen Bio-Eiern besser sein, die sehen doch genauso aus wie meine? (Ist mir zu blöd, wir diskutierten das bereits, ergebnislos.)
– Warum muss dieser Hund so ein Luxusfutter bekommen, das vom Lidl ist doch viel billiger? (Halt die Fresse.)
Die Antworten in Klammern habe ich übrigens fast allesamt so nicht gegeben, sondern sie mir nur gedacht, denn G. kommt mühelos auch ohne Antworten klar, weil ihr Gekeife sowieso nicht als Einladung zum Gespräch, als ernsthaft interessierte Nachfrage oder gar Verstehenwollen gemeint ist.
Gestern Abend verheddern wir uns zu dritt im Thema „Was kochen und essen wir die nächsten Tage“. Wir wollten uns mit dem Kochen abwechseln, mal ich, mal die beiden, so war’s abgemacht. Das Abendessen ist die einzige, längere gemeinsame Zeit am Tag, was auch gut so ist, denn es kommen ja eh täglich noch kurze Begegnungen im Haus dazu, die sich durchaus summieren.
Der Papa schlägt ein Gericht vor, fragt mich, ob ich darauf Lust hätte. Ich verneine höflich. Wir wollen gerade gemeinsam weitere Ideen wälzen, da grätscht G. dazwischen. Was mir denn nun an dem Vorschlag nicht passe und wieso wir das nicht essen könnten und wieso der Papa sich schon wieder weichkochen lasse von mir und auf diese Sonderwünsche einginge. Der Papa wehrt sich und meint, ich müsse hier nichts essen, was mir nicht schmecke, ganz einfach, und es gäbe schließlich noch genug andere Rezepte, und wir hätten uns bislang immer auf was einigen können.
G. grunzt grantig und zieht die Mundwinkel hinunter bis zu den Armlehnen des Sofas, auf dem sie hockt.
Ich schlage vor, dass die beiden sich dieses Gericht doch ruhig kochen sollen und ich dann einfach nur von den Beilagen esse, mit denen ich völlig zufrieden bin, und betone zum x-ten Mal, dass ich eh nur selten Fleisch esse und wenn, dann eben nur ausgewähltes und ich aber nicht erwarte, dass sie das auch so handhaben. Als ich versöhnlich ein „Jeder darf doch hier essen, was ihm schmeckt und behagt“ ans Ende dieser unseligen Debatte setzen will, eskaliert das Gekeife: mir würde ja nichts schmecken und behagen und man sähe das ja schon an diesem Luxushundefutter, wie seltsam es um meinen Geschmack bestellt sei.
Daraufhin explodiert erst der Papa („Jetzt gönn doch dem Hund sein Futter!“), danach ich (sage: „Warum hast du eigentlich an allem, was ich esse, etwas auszusetzen?“ und denke: „Ich feinde dich doch auch nicht an, weil du dir diese gruselige, ranzige Kondensmilch in deinen Kaffee kippst!“).
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Ich sag’s Ihnen: Patchwork-Familien sind ein Traum! Und Dreierkonstellationen ebenso. Mit beidem habe ich zwar langjährige Übung, aber die hat offenbar nicht das Geringste gebracht. Das mit G. und mir, das funktioniert einfach nicht, obwohl ich mir schon vor drei Wochen eine Haltung zu diesem Wasserschaden-Exil-Aufenthalt hier zugelegt hatte (oder es zumindest versucht habe) – aber mehr als Duldung ist nicht drin, erstaunlich, dass nun offenbar nicht mal die gelingt, und ich überlege, ob G. mich wohl hier rausekeln möchte oder ob ich eher als Ventil für ihren angestauten Frust über den Papa fungiere.
Der macht ihr nämlich auch nichts mehr recht, es ist ein ständiges Widersprechen und Dagegenhalten und Herummosern.
Seine Parkinsonerkrankung wirkt in diesem Lichte wie eine Reflexion des Status quo seiner Lebensgemeinschaft mit G. – alles wird zusehends regloser und starrer, dem einen hängt eine ganze Körperhälfte herab, dem anderen die Mundwinkel. Deprimierend ist das.
Ich hätte heute Vormittag, während G. sich mit ihren saturierten, verwitweten Canasta- und Tennis-Tanten zum freitäglichen Tratsch im Café trifft, den Papa mal drauf ansprechen wollen, denn mehr als ein paar verbundene, gequälte Blicke haben wir über diese Sache noch nicht austauschen können. Nun darf er aber wegen seines Besuchs beim Dentisten nicht sprechen und letztlich bin ich im Augenblick auch froh um jede weitere Anstrengung, die mir erspart bleibt.
Vielleicht später, wenn G. beim Friseur ist. Oder beim Abendessen, wenn sie dabei ist und sich gerade darüber grämt, dass ihr mein Risotto hervorragend mundet und es darüber nichts zu meckern gibt außer der Ungeheuerlichkeit, dass die Küche schon vor dem Essen weitgehend wieder aufgeräumt ist („so zwanghaft wie dein Vater!“).
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Der Morgenblick aus dem Dachfenster kann hier leider nicht immer halten, was er verspricht. Obwohl der wirklich schön ist.
Und obwohl er sogar noch von einem Star gekrönt wird, der jeden Morgen auf dem Dachgiebel des Nachbarhauses sitzt und den zur Neige gehenden Winter und den nahenden Frühling bezwitschert.

Da logiert man nun in einer Gegend, in der andere Urlaub machen, sich zur Kur aufhalten, Hochzeiten feiern oder ihre Seelen baumeln lassen, und ist ansatzweise schon wieder auf der Flucht: nun nicht mehr vor den Bauarbeiten daheim in München, sondern vor den bad vibrations einer Endsiebzigerin.
Es gibt natürlich Garstigeres als täglich drei bis fünf Stunden das Tegernseer Tal oder die hiesige Bergwelt zu durchstreifen, aber es gäbe eben auch was zu Arbeiten, wozu man mal einige Stunden Ruhe am Stück bräuchte und eine dem Arbeitsprozess zuträgliche häusliche Umgebung.

Versucht man’s dann in einem Café am See, in das man Dackelfräulein und Laptop mitnimmt, wird auch nichts draus. Man hat – als ahnungslose Zugroaste – aus Versehen den Lieblingsplatz zweier Spezls aus dem Dorf erwischt, die genau dort für ihren Männerplausch zu sitzen belieben.

Weil die beiden einen aber nicht auch noch in die Flucht schlagen wollen, setzen sie sich einfach dazu und der eine stürzt sich gleich auf Pippa („i hob amoi so oan ghobt, der is ma vui z’friah gstorbn“), der andere auf mich: „Sagen Sie, dürfte ich Ihnen ein Gedicht vortragen, das ich über den Tegernsee geschrieben habe? Mich würde interessieren, wie das auf eine junge Frau wirkt!“.
Ich schmunzle über das Attribut „jung“, kommentiere es und werde belehrt, dass ich aus seiner Warte (er ist 84 und ein paar zerquetschte, wie er sagt) sehr wohl „jung“ bin. Alles eine Frage der Perspektive.

Es wird dann ein netter, herzlicher, interessanter, inspirierender und ausgesprochen anregender Nachmittag mit den beiden Herren, ein Theologe und ein Onkologe übrigens.
Sie spendieren eine Runde Gebäck und Trüffel aus der Vitrine („in unserem Alter muss man die Feste feiern, wie sie fallen!“), wir sprechen über Gott und die Welt, über Berg und Tal, über Leben und Tod. Werden wir die Tage wohl fortsetzen, haben ja auch noch nicht von allen 25 Trüffelsorten gekostet.

Wieder nicht zum Arbeiten gekommen.
Dafür gut getrüffelt und gelaunt mit dem Fräulein am Seeufer heimwärts geschlurft.

Sie sehen, ich bin in allerbester Gesellschaft.
Sollten Sie erstmal nichts mehr von mir hören, müssen Sie sich keine Sorgen machen: der Onkologe wirkt auch mit seinen über 80 Jahren noch wie ein kompetenter und hellwacher Arzt und der Theologe hat sogar schon Reden für Seebestattungen verfasst.

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