
Matrjoschka Nr. 5 tritt schlotternd aus der Reihe ihrer Schwestern hervor, besinnt sich dann aber ihres Erwachsenseins und erzählt die Geschichte von jenem Samstag. Ist da ein Beben in ihrer Stimme? Oder sind das die Corroventen?
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Es war ein Samstag.
Einer dieser völlig gewöhnlichen und bedrückenden Samstage in unserer Familie. Der Papa hatte sich frühmorgens alle Mühe gegeben, den Tag in eine Spur zu bringen, in der er gut vorübergehen (oder einfach passieren) könnte, wären da nicht die vielen Nebengleise gewesen und die Mutter eine so unberechenbare Weichenstellerin.
Beim Bäcker war er gewesen und hatte für jeden von uns etwas mitgebracht, was dessen Frühstücksherz höher schlagen ließ: für die Mutter ein Sesamringerl, für die Tochter eine Breze, für sich ein Mohnzöpferl (die Sachen hießen wirklich so) und vermutlich gleich noch etwas Vorrat für den Sonntag (das waren ja noch Zeiten, zu denen Bäcker sonntags ihre Ruhe hatten vor der gefräßigen, verwöhnten Kundschaft).
Er erhitzte die Milch und rührte holländischen Kakao für sich und die Tochter an, bereitete der Mutter ihren Schwarztee zu, viertelte die Zitrone, die sie zum Tee nahm, kochte vier Eier, schnitt die Semmeln auf, deckte den Tisch und rief irgendwann, als alles zubereitet war: „Guten Morgen! Frühstückelchen ist fertig!“
Sein Ruf verhallte ohne Echo, verlor sich in den Teppichplattenritzen des langen Flurs, der zum Schlafzimmer der Mutter und zum Kinderzimmer führte. Niemand reagierte. Auch nicht auf den zweiten und dritten Ruf.
Erst wenn der Papa ein resigniertes „Ich fang jetzt an, sonst werden die Eier kalt!“ hinterherschickte, rumorte es im hinteren Teil der Wohnung.
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Dann wetzte ich aus meinem Zimmer, vor ins Wohnzimmer, setzte mich im Nachthemd an den gedeckten Tisch und nahm einen ersten Schluck von der köstlichen heißen Schokolade.
Ein paar Minuten später hörte man, wie sich eine Türklinke senkte und die Mutter bog in den Flur ein, nahm unterwegs ihren samtenen Morgenmantel von einem Haken und erschien mit der üblichen Leidensmiene im Wohnzimmer.
Irgendetwas war vorgefallen, es stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber keiner hätte nachzufragen gewagt, weil das zu einem vorwurfsvollen „Ach, das weißt du nicht?“ oder gleich zu einem theatralisch-stummen Weinkrampf geführt hätte, wenn nicht gar zu größeren Ausbrüchen, bei denen einem das leckere, frische Gebäck im Halse steckengeblieben wäre.
Fast immer war ja irgendetwas vorgefallen, die Mutter selbst war bereits der größte Vorfall in ihrem Leben, und alles, was da noch hinzukam, verschärfte die eh schon dramatische Ausgangslage.
Der Papa begann eine harmlose Frühstücksplauderei, machte ein paar Vorschläge zur familiären Tagesgestaltung und köpfte sein zweites Ei. Der Mutter missfielen das Geplauder (als wenn nichts wär‘! wie konnte er nur!), die Ausflugsideen (sah er denn nicht, wie es ihr ging? wie konnte er nur!) und das Zweitei sowieso (wie konnte er nur! war sein Bauch nicht schon dick genug?). Ich hantierte mit einer sonnengelben Schokocremetube, drauf ein pausbackiger Struwwelpeter und drinnen ein ölig-zuckriges Nutella-Imitat (kennen Sie diese Tuben noch? waren nicht lang auf dem Markt, obwohl der Papp besser schmeckte als Nutella!). Auch das missfiel der Mutter.
Sie legte ihren Eierlöffel geräuschvoll auf den Tisch und erhob die Stimme zu einer ersten Anklage. Alles war falsch, der Tag hatte ungut begonnen, ach wäre sie nur im Bett geblieben und überhaupt: wir wüssten doch, wie schwach ihr Kreislauf in der Früh sei und dass man ihr da keine Unterhaltung und auch nicht diese viel zu frühe und fettige Frühstückerei zumuten könne, überhaupt wäre sie im falschen Leben gelandet und in der falschen Familie sowieso, alle so grob, nur sie so fein und zart, das könne ja nicht gutgehen!
Ihre Stimme nahm während solcher Litaneien eine Tonlage an, die ich noch heute präszise erinnere, obwohl es rund 15 Jahre her sein dürfte, dass ich sie letztmals hörte (bei unseren letzten Begegnungen im Jahr vor ihrem Tod konnte sie ja bereits nicht mehr sprechen).
Es war eine kleinkindhaft nölende, kraftlos jammernde und zugleich gespielt liebliche Tonlage und sie drückte dem Zuhörenden schon nach wenigen Takten das Etikett des Täters auf, ganz en passant geschah das, und auch ihre Körpersprache trug eifrig dazu bei, die anderen zu Kreuze kriechen zu lassen.
Der Samstag war in dem Moment gelaufen, in dem die Mutter ihre Anklage vorgetragen hatte, anschließend Kopf und Schultern hängen ließ, sichtlich schwach und mit blassen Lippen in die mit Orangenmarmelade bestrichene Sesamringerlhälfte biss und unendlich lange an diesem einen Bissen kaute, bevor sie das Gebäck auf den Teller sinken ließ und zu weinen anfing. Daraufhin begann der Papa sein hilfloses Trostplädoyer zu halten und wurde dabei selbst immer bedrückter und kraftloser und irgendwann, als ich mich schon längst mit meinem schokoladenverschmierten Mund in mein Zimmer zurückgeschlichen hatte, hörte ich die Eltern dann streiten und wenig später schloss sich eine Tür und die Mutter hatte sich ins Schlafzimmer verkrochen.
Denke ich an Samstage meiner Kindheit, so denke ich automatisch an die weinende Mutter am Frühstückstisch, obwohl es sich statistisch gesehen nicht so verhielt, dass 90% aller Samstage so verlaufen wären, aber schon 50% haben bereits ausgereicht, dass ich keine anderen Samstagserinnerungen an früher habe als diese.
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Jener spezielle Samstag muss sich im dritten Quartal des Jahres 1983 abgespielt haben, was ich nur deshalb weiß, weil der für mich zentrale Satz dieses gruseligen Tages lautete: „Mit 11 Jahren braucht man keine Mutter mehr!“, und da ich im Juli Geburtstag habe, muss es also ein Samstag nach dem Juli ’83 gewesen sein und da ich noch weiß, welche Kleidung die Mutter an dem Tag trug, nachdem sie ihrem Morgenmantel entstiegen war, muss es noch ein einigermaßen milder Monat im Herbst des genannten Jahres gewesen sein.
Die Mutter sprach diesen Satz ungefähr zur Mittagszeit hinter ihrer verschlossenen Tür aus, dennoch laut genug, dass man ihn auch im Flur vor dieser Tür hören konnte.
Wie es sich genau zutrug, dass es von diesem nassgeweinten Teller bis zu jenem Satz kam, weiß ich nicht mehr.
Ich weiß nur noch, dass die Mutter sich an diesem Herbstsamstag nach dem Frühstück nicht nur ins Schlafzimmer begeben, sondern dort sogar eingeschlossen hatte.
Das war außergewöhnlich, denn eigentlich wollte sie, dass wir nach ihr sahen, dass wir an ihrem Bett saßen und sie zu besänftigen versuchten, dass wir einfach alles versuchten, um das Ruder wieder herumzureißen, das sie zuvor enttäuscht und wütend zerbrochen und in den Untiefen ihres Seelensumpfes versenkt hatte.
Nicht so an diesem Samstag. Die Tür war verschlossen und der Papa und ich standen davor und rüttelten abwechselnd an der Klinke. Von drinnen nur Schluchzen oder Schweigen, aber keine Mutter, die sich anschickte, den Schlüssel im Schloss wieder umzudrehen.
Wir ließen sie in Ruhe, wir hatten eh keine andere Wahl. Ich ging in mein Zimmer, der Papa setzte sich aufs Sofa und nahm sich die Zeitung vor. Gelegentlich stand er auf, ging den Flur hinter und klopfte an die Schlafzimmertür. Ohne eine Reaktion zu ernten.
Gegen Mittag hörten wir plötzlich ein klirrendes Geräusch aus dem Mutterbunker.
War da ein Glas zu Bruch gegangen? Was war da drinnen los? Der Papa wurde nervös, rüttelte wieder an der Klinke und bat die Mutter, sie möge die Tür aufsperren, wir würden uns Sorgen machen. Auf einmal antwortete sie ihm. Er solle sie in Ruhe lassen, wir alle sollten sie in Ruhe lassen.
Der Papa erschrak als er das hörte. Sein Schreck hatte aber nicht das Geringste mit dem Inhalt des Satzes zu tun, sondern galt dem Tonfall: denn die Mutter hatte gelallt. Nun nahm auch das Klirren Gestalt an, und zwar die Gestalt eines Cognacglases, dessen Fehlen der Papa kurz nach dem gelallten Satz der Mutter in der Wohnzimmervitrine feststellte. Zusammen mit dem gläsernen Schwenker war auch eine Flasche Rémy Martin verschwunden.
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Der Elfjährigen gefror sofort das Blut in den Adern.
Alkohol war böse, so viel wusste sie, vor allem jener Alkohol, der nicht im Kühlschrank stand, sondern in dem abgeschlossenen Fach der typischen 70er-Jahre-Schrankwand, in dem sich eine beleuchtete, kleine „Bar“ befand.
Was dort aufbewahrt wurde, kam nur bei besonderen Anlässen zum Einsatz, meist, wenn Gäste da waren. Die Mutter war keine routinierte Trinkerin, sie trank selten mehr als ein Glas Wein, Bier sowieso ungern, bestenfalls ein kleines Pils, und höchstens, wenn Gäste da waren, nahm sie mal ein kleines Stamperl Hochprozentiges zu sich.
Die Elfjährige bekam Angst und fing an zu weinen.
Der Papa tröstete sie, obwohl auch er Angst hatte und sich nicht zu helfen wusste. Er sprach die Mutter wieder und wieder durch die verschlossene Tür an, flehte sie an, keinen Unsinn zu machen, sondern herauszukommen aus ihrem Verlies. Ab und an lallte die Mutter irgendwas zurück.
Eine gefühlte Ewigkeit ging das so dahin, bis dem Papa der Kragen der platzte und er den Werkzeugkasten aus der Kammer holte und sich mit allerlei Gerätschaften an dem Türschloss zu schaffen machte, während ihm die Tochter in den Nacken heulte.
Als die Mutter mitbekam, dass ihr Ehemann dabei war, die Tür gewaltsam zu öffnen, fing sie an zu schimpfen und zu schreien. Der Papa reagierte darauf zunächst nicht, erst als sie schnaubte, wieso sie da drinnen nicht in Ruhe sterben dürfe, schnaubte er zurück: „Weil hier draußen deine Tochter weint und die Welt nicht mehr versteht!“
So kam es also zu dem oben zitierten Satz der Mutter.
Es war einer der drei schlimmsten, die ich je von ihr zu hören bekam. Es war der einzige, der trotz (oder wegen?) seines Alkoholgehalts eine tief empfundene Wahrheit der Mutter zum Vorschein brachte (die anderen beiden waren zwar ähnlich hart, aber nüchtern verkündete Gehässigkeiten, die wesentlich besser wegzustecken waren).
Als ich ihn hörte, taute das Blut in meinen Adern schlagartig wieder auf. Ich wischte mir mit meinem Ärmel die Tränen vom Gesicht und starrte fassungslos auf die Schlafzimmertür.
Ich hatte verstanden.
Und ich spürte, dass ab sofort mit allem zu rechnen war.
Im nächsten Moment begann ich mit dem Erwachsenwerden, viel zu früh und ohne zu wissen, was das ist und wie das gehen sollte, vor allem ohne eine Mutter, die einen dabei begleiten würde.
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Jetzt wissen Sie, warum ich Cognac hasse. Und dunkelbraune Holztüren.
Auch mein Verhältnis zu Samstagen ist nach wie vor nicht das allerbeste. Und von Menschen, die sich aus Frust betrinken, halte ich mich nach Möglichkeit fern.
Aber das Erwachsenwerden, das hat geklappt, gnadenlos. Und Wochenendfrühstücke mit Breze und Ei habe ich auch beibehalten.
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