Aufgewacht. Wie immer nach zu wenig Schlaf und zu früh am Morgen. Gerädert lese ich noch eine Weile dem beginnenden Tag entgegen.

Paul Auster ist tot, nur 77 ist er geworden. Als ich mich durch seine Romane pflügte, war er jünger als ich jetzt. 1994 war das, der Noch-nicht-Erstehemann und ich waren gerade zusammengezogen, in eine Dreizimmerwohnung in Würzburg, mit einem Balkon, den ich nie vergessen werde, zum einen, weil er so riesig war, dass wir beide dort zeitgleich sitzen, essen, trinken, studieren, Wäsche trocknen und Tomaten züchten konnten, zum anderen, weil man mit zwei gekonnten Kraxelzügen auf den Nachbarbalkon steigen konnte, der zu einem Appartement gehörte, in dem einer wohnte, mit dem ich damals nächtelang Bocksbeutel leeren und über Gott und die Welt, die für uns damals auch aus all den Romanen von Philipp Roth, Paul Auster und Saul Bellow bestand, diskutieren wollte, später wurde er unser Trauzeuge.

Es war eine weitgehend unbeschwerte Zeit damals, die Probleme und Sorgen noch ebenso überschaubar wie die Erwartungen an eine Zukunft. Von dem Allermeisten hatte ich keine Ahnung, nichtsdestotrotz war da noch ein unerschütterlicher Glaube, dass schon alles gut werden oder gelingen würde, was ja nicht dasselbe ist.

Frühmorgens liege ich also im Bett und denke an die Irrungen und Wirrungen von Marco Stanley Fogg in „Mond über Manhattan“, jener Roman von Paul Auster, den ich seinerzeit am meisten liebte, vielleicht, weil der Autor damals noch mehr hungrig als satt war (ab „Timbuktu“ konnte ich nicht mehr viel mit ihm anfangen), so ist es ja mit etlichen Kreativen: im Dunst der inneren Krise, welcher auch immer, entstand weitaus Wichtigeres und Wuchtigeres als in der saturierten Sonnigkeit anderer Schaffensperioden – die Songs, die Springsteen in seinen depressiven Phasen schrieb, waren stets um ein Vielfaches besser als die Lieder seiner leichteren Jahre.

Wochenlang saß ich damals auf diesem riesigen Würzburger Balkon und lektorierte die Magisterarbeit des Noch-nicht-Erstehemanns. Er schrieb über „Selbstkonstruktion und Ichverlust in den frühen Romanen Paul Austers“. Heute ist er mittelmäßiger Deutschlehrer an einem mittelgroßen fränkischen Gymnasium, eigentlich hätte er mehr zum Wissenschaftler getaugt, aber sein fränkisches Phlegma drängte ihn zur baldigen Beamtenlaufbahn, dabei war das Dasein als Lehrer allein aufgrund der täglichen Aufstehzeit ein Alptraum für ihn. Ob er sich im Laufe der Jahrzehnte daran gewöhnt hat, weiß ich nicht, weil ich den Kontakt vor rund zehn Jahren nach einer kolossalen Knausrigkeit seinerseits endgültig auslaufen ließ.

Dieser 1. Mai 2024 ist so sommerlich warm, dass das Fräulein und ich an den See geflohen sind. In der Uferstraße quetschen sich die stinkenden SUVs mühsam aneinander vorbei, die Porsches und Teslas suchen Parkplätze, weil das Schuhwerk ihrer Insassen Wege, die weiter als 200 Meter sind, nicht zulässt, und hupen sich gegenseitig bei ihren Wendemanövern wütend an. Alle haben den Größten, das hebt sich dann dummerweise gegenseitig auf und so blicken sie auch drein, wenn sie aus ihren Cabrios rausgucken: geldig, gehfaul & geschrumpft zugleich.

Wir sitzen in dritter Reihe in einem Kiosk-Café, das Fräulein, das sich vor drei Tagen nach unendlich langer und unergründlicher Pause entschlossen hat, doch nochmal läufig zu werden, dampft vor sich hin, und ich genehmige mir ein ungewohnt frühes Weißbier, und dies fast nur seines schönen Namens wegen, der das Flaschenetikett ziert.


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Mit welchen Umdrehungen die liebe Frau Graugans in den Mai tanzt, lesen Sie bitte hier.

6 Kommentare zu “(#49): Täubchen.

  1. Ich liebe diese Eure Mittwochsbetrachtungen, die Spotlights aus Alltäglichem und Besonderem. Aus Gedanken und Erlebtem mit dem ganz besonderen Blick darauf und manch messerscharfer Spitze darin.
    Bitte hört nie damit auf.

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  2. Pingback: # 49 Der Callboy, die Metamorphose der Stubenfliege und der kopflose Reiter… | Graugans

  3. Oh … ich habe gar nicht mitbekommen, dass Auster gestorben ist, das macht mich jetzt doch sehr traurig – möge er in Frieden ruhen!

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  4. Geldig, gehfaul und geschrumpft – hab ich sofort in mein Notizbuch übertragen, das allein hat dich soeben unsterblich gemacht. Bei Paul Auster denke ich an den Kioskbesitzer, der jeden Tag die Kreuzung fotografiert. Eine der Inspirationen für mein Tagesfotoprojekt seit 2000. Für ein frühes Weißbier (bei mir gerne Weißwein) ist es übrigens nie zu früh – wie sagt Kapielski so schön: ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein.

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    • Vorweg: entschuldige bitte meine Nachlässigkeit im Beantworten von Kommentaren, zumal der deine mich unglaublich gefreut hat. Zum einen, weil so ein kleines Stück Unsterblichkeit sich toll anfühlt, zum anderen, weil ich mich auch noch gut an den Kioskbesitzer erinner,e und zu guter Letzt, weil dein Schlusssatz ein ganz wunderbarer war.
      Herzliche Grüße von München in die Hauptstadt!

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