Unter der Dusche sollte ich stets ein Diktiergerät zur Hand haben. Es sprudelt dort nicht nur von oben, sondern auch von innen: Sätze, teils bloß einzelne, teils auch längere Absätze kommen daher, doch wenn ich sie nicht sofort auffange, rinnen sie mit dem warmen Wasser an mir hinunter, rutschen in den Abfluss und verschwinden in den Untiefen eines Rohrsystems, zu dem ich keinen Zugang habe.

„Jenseits der 50 wird jenes Kapitel der Biographie aufgeschlagen, in dem die allermeisten schon seit Längerem mehr oder weniger körperverhungert vor sich hinleben. Den allerwenigsten merkt man ihr diesbezügliches Darben äußerlich an: gesättigt sehen sie aus, die einen eher optisch gepolstert, die anderen mehr materiell (etliche beides zugleich), eine immer größer werdende Gruppe kaschiert ihr Körperlichkeitsdefizit, indem sie sich ausufernd in Arbeit, Sport, Kultur, Reisen oder andere kompensationstaugliche, ablenkungsintensive Beschäftigungen stürzt, was ihnen den Anschein eines positiven Ausgelastetseins verleiht, alle können schließlich sehen, dass da eine/r aktiv ist, was tut, was bewegt, was erlebt, was lernt, was leistet. Und eine im Dunkel der Dunkelziffer nicht näher zu beziffernde Anzahl verhüllt und versteckt sich, um unbeobachtet von dem bewertenden Blick einer immerzu nach Funktionstüchtigkeit und -tauglichkeit gierenden Gesellschaft still und leise zu verhungern.“

Möglicherweise zu viel Kafka gelesen, zuletzt: „Ein Hungerkünstler“. Daraus folgende Passage ins Notizbuch übertragen:

„So lebte er mit regelmäßigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in trüber Laune, die immer noch trüber wurde dadurch, dass niemand sie ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch trösten? Was blieb ihm zu wünschen übrig? Und wenn sich einmal ein Gutmütiger fand, der ihn bedauerte und ihm erklären wollte, dass seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern käme, konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehen, dass der Hungerkünstler mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller wie ein Tier an dem Gitter zu rütteln begann.“

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Beim Abtrocken meiner Füße fällt mein Blick auf den Ringzeh oder wie auch immer dieses kleine Würstl heißen mag. Der Nagel spaltet sich, bald wird er sich ablösen. Vor ein paar Monaten hatte den kleinen Zeh des selben Fußes das gleiche Schicksal ereilt. Ich bin geneigt, diese Nagelspaltungen als Beginn einer Erneuerungsserie zu betrachten, weiß aber, dass das Blödsinn ist und es angeraten wäre, mal nachzulesen, was es damit auf sich hat und ob man da was tun muss. Nicht, weil man jeden Körperkram googeln oder behandeln sollte, sondern weil dieses Phänomen ein Stadium beeinhaltet, in dem es ein Problem beim Schuhetragen gibt, nämlich dann, wenn die Schuhkuppe beim Abrollen des Fußes ziemlich schmerzhaft auf den sich kurz vor der finalen Ablösung befindenden Nagel drückt.

Kein Mensch möchte sowas lesen, denke ich, während ich diesen Absatz tippe. Kein Mensch möchte mit fremden Ablösungs- und Auflösungserscheinungen behelligt werden. Doch ich möchte trotzdem darüber schreiben. Über das Verhungern und über den Verfall, beides ja ein so stummer, schleichender Prozess, und erst, wenn er weit genug fortgeschritten ist, wird entsetzt aufs Ergebnis gestarrt, dabei hätte ein Gutteil dieses Entsetzens vermieden werden können, hätte man denn vorher schon mal gewagt, die Augen zu öffnen und hinzusehen.

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Auch ohne Glioblastom und offiziell verlautbartem Verfallsdatum fühle ich mich dem Herrndorf sehr nahe. Der Rhythmus seiner Sprache, diese kurzen Skizzen, die sie zeichnet und die der Autor mit den satten Farben abgrundtiefen Humors und abgrundtiefster Panik zu kolorieren versteht, und all das aus sich rausschreibt ohne Ankerwurfabsicht in Richtung Leserurteil, sondern einfach so, wie es ihm das kleine Glück oder das große Elend des jeweiligen Tages erlaubt, diese unumwundene Unmittelbarkeit, die mich aus seinen Texten anspringt, sickert auf eine Weise in mich ein, wie sie nur für die Bewässerung heimischer Beete typisch ist: man weiß um die Risse im Erdreich, die Lockerungen um den einen oder anderen Setzling oder die vermoosungsanfälligen Ecken, und mit Bedacht wässert man das Beet eben genau so, dass das Wasser sich nirgends staut, sondern dorthin fließen kann, wo es gebraucht wird und aufgenommen werden kann.
Nach dem Gießen wirkt alles gesättigt, für eine Weile kann das Gesäte in dieser Sattheit gedeihen, bis erneut Hunger aufkommt und Verhungern droht, wenn nicht beizeiten nachgegossen wird.

Als ich vor vielen Jahren, parallel zum endgültigen Dahinsterben der Mutter, „Arbeit und Struktur“ las (und währenddessen noch nicht die geringste Ahnung hatte, dass der Mutter ein Lymphom im Hirn gewachsen war und sie alsbald dran verenden würde), saß auf ich auf dem Balkon, den der Zylinderputzer täglich aufs Neue mit seinen unzähligen roten Rieselhärchen verklebte, und war in einen Sog geraten, den Sog, den die Lektüre dieses Lebensblogs auf mich ausübte, so sehr, dass ich anschließend in eine Starre verfiel, jene Starre, in die man nur ganz selten und nur nach ganz wenigen Büchern verfällt, nichts anderes passt dann in diesen Zustand der Intensität und Fülle noch hinein, nichts müsste noch ergänzt werden oder aussortiert, man ist vollkommen satt, alles ist da, in einer fraglosen Komplettheit ist alles in einem drin, und es füllt einen auf eine Weise aus wie es sonst nur einer Verliebtheit oder einem Verlust gelingen würde.

In genau diesem Zustand erreichte mich damals der Brief von der Betreuerin der Mutter und informierte mich über das Lymphom, das die Mutter umbringen würde.
Zwei Hirntumore, der Herrndorfsche und der der Mutter, hatten so absurd dicht nach- bzw. miteinander Eingang in meine Welt gefunden, dass mir damals beinahe der Kopf platzte.

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Ich gehe in den Keller und suche nach dem Notizbuch aus dem damaligen Tumor-Sommer. Finde es, schlage es an einer beliebigen Stelle auf und da steht:

„Die Sensation überwiegt die Konzeption, sagt Julia über Leben und Blog und händigt mir den Schlüssel zu den Räumen der Foucault-Gesellschaft aus, damit ich ungestört arbeiten kann. Irgendeine obskure Soziologenvereinigung.
(…) Foucault und der andere philosophische Jahrhundertmüll an den Wänden sagt mir wenig, aber die Dimension der Teekanne spricht eine klare Sprache: Hier wird gedacht, ordentlich gedacht, ein Denken in die richtige Richtung. Zwei-Liter-Teekanne, Stövchen, Darjeeling der Teekampagne. So und nicht anders geht Geist.“

[Quelle: https://www.wolfgang-herrndorf.de/2011/09/zwanzig/]

Am Abend laufe ich durch die Eiseskälte zum Volkstheater, sieben Minuten Fußweg, die ausreichen, um weitere sieben Minuten naseputzend im Foyer zu stehen. Der Intendant des Hauses hilft an der Garderobe aus, es mangelt immer noch überall an Personal, er nimmt Mäntel ab und hängt Schirme auf und lächelt leicht entrückt vor sich hin oder den Menschen zu, ein Mann, zu dem ich kein belastbares Gefühl entwickeln kann, je öfter ich ihn sehe, desto suspekter wird er mir.

Er trägt eine Wirrnis in seinen Gesichtszügen, die sich fortsetzt in seiner gesamten Statur, ihn wie zerfleddert dastehen lässt: das Holzfällerhemd fällt aus dem Bund einer Hose, die ihrerseits eine fallende Tendenz aufweist, aber was besagen schon Äußerlichkeiten (an der Garderobe stehend nehme ich seinen warmen Oberammergauer Dialekt wahr, er kommentiert das Winterwetter, das „r“ in „greislich“ rollt wie ein zartschmelzendes Trüffelkügelchen in mein rotgefrorenes Hörorgan).

„Radikal jung“ heißt die Reihe, in der „Arbeit und Struktur“ eine von zahlreichen Aufführungen ist. Die einzige, die mich interessiert. Großartige Videotechnik kommt zum Einsatz, ein auf die bühnenfüllende Leinwand projiziertes Gesicht mit Schweißperlen auf der Stirn spricht die Tagebucheinträge von Wolfgang Herrndorf, ein Prolog, der mit einer Eindringlichkeit vorgetragen wird, die einen mitschwitzen lässt.

Leinwand hoch, Sicht frei auf den Mikrokosmos eines medizinischen Einzelschicksals, das Protokoll eines absehbaren und angekündigten Austritts aus der Welt, aus einem Leben, das sich aller bisherigen Skepsis und jedem Selbstzweifel zum Trotz im Angesicht seines Endes ebenso klarsichtig wie verzweifelt zu einer Krönungszeremonie aufschwingt, deren goldenen Glanz der Gekrönte zwar noch verschwommen sehen, aber nicht mehr festhalten kann.

Im letzten Akt des Theaterstücks das Stakkato einer Schreibmaschine, das die Schlusssätze aus „Arbeit und Struktur“ auf die nun ganz in Schwarz versinkende Bühne schießt – jeder Schuss ein Treffer, und dann ist es vorbei und vollbracht, so wie in der Augustnacht am Spreeufer, damals vor knapp elf Jahren.


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Was der Flügelschlag von Frau Graugans heute für Spuren im Aprilhimmel hinterlässt, steht wie immer hier.

14 Kommentare zu “(#48): Vom Verhungern und Sattsein.

  1. Welch Übereinstimmung. Kafka treibt mich auch gerade um.

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  2. Pingback: # 48 Rilke, Katzen und die Eigenart der Dinge | Graugans

  3. Hallo, liebe Natascha,

    danke für Deine Gedanken unter der Dusche mit den Lektüren von Kafka und Herrndorf. Hab‘ früher den „Hungerkünstler“ und später „Arbeit und Struktur“ gelesen. Hier mag ich Dir einen frischen Appetit wünschen zum leckeren Frühstück, sättigendem Mittag und feinen Abendessen – oder anderen Reihenfolge nach Wohlgefallen.

    Solidarische Grüße zum Frühling von Bernd

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  4. Ei, da kenne ich welche, die haben alles schlimmer. Wehe, das wird in Zweifel gezogen, und sei es nur hauchzart. Die rütteln dann auch gar fürchterlich an den Stäben. Ich weiß dann nie, wie zu tun. Geb ich ihnen einen Klatsch, dann schreien sie. Geb ich ihnen Schokolade, beschmieren sie sich. Hach …

    Weitergehen hilft allein.

    Danke & Grüße, Reiner

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  5. Über Herrndorfs Blog war ich damals gestolpert und verfolgte ihn bis zum bitteren Ende. Auf einer Veranstaltung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sprach neulich sein Biograf Tobias Rüther, FAZ-Journalist. Guter Mann, die Biografie lohnt vielleicht.

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  6. schön, wenn man Notizbücher aufbewahrt hat…

    war wieder ein Erlebnis, hier lesen zu dürfen…

    lg wolfgang

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    • Hab einen ganzen Koffer voll davon im Keller stehen. Neben den Kartons mit den Briefen. Man braucht ja mal eine Beschäftigung, später im Pflegeheim.
      Danke dir für die Blogblumen und liebe Grüße zurück!

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  7. Ächz. Das issso klasse! Das ist ein Texthammer. Sooooooooo treffend!

    Ist das erste Zitat auch Kafka? Oder einer der Dusch-Einfälle? Oder Herrndorf? Das trifft so auf die 12!

    Und dann noch:

    „dass ich anschließend in eine Starre verfiel, jene Starre, in die man nur ganz selten und nur nach ganz wenigen Büchern verfällt, nichts anderes passt dann in diesen Zustand der Intensität und Fülle noch hinein, nichts müsste noch ergänzt werden oder aussortiert, man ist vollkommen satt, alles ist da, in einer fraglosen Komplettheit ist alles in einem drin, und es füllt einen auf eine Weise aus wie es sonst nur einer Verliebtheit oder einem Verlust gelingen würde.“

    Und das ist ja Hammer zwo in diesem Post. Die bisher beste Formulierung, die ich zu DIESEM Zustand bis jetzt irgendwo gelesen habe.

    Hab ich ja mal in irgendeinem meiner Raabe-Posts (glaub‘ ich) als „Niewieder was lesen, denn nichts wird jemals DA RAN kommen“ beschrieben. Wenn halt ALLES stimmt, was da gerade im Kopf des Lesers ankam…

    Aber natürlich liest man dann doch weiter.

    Toll.

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    • Immer dasselbe: wenn ich nicht prompt antworte auf einen Kommentar, gerät’s dann doch wieder in Vergessenheit. Sorry.
      Dein Begeisterungssturm kam bei jedenfalls mir an, danke dir!
      Und: das erste Zitat war nicht Kafka oder Herrndorf, sondern ein Dusch-Einfall.

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