Allein in einem niedrigen, quadratischen, fensterlosen Raum.
Latent gregor-samsa-artige Atmosphäre. Grelles Neonlicht umgibt mich. Plötzlich beginnen die Leuchtröhren an der Decke zu flackern. Wie Nadelstiche in die Netzhaut prasseln die Lichtblitze hernieder.
Ich möchte die Arme heben, um mir mit den Handflächen die Augen zuzuhalten, sie zu schützen vor dieser Attacke, doch meine Hände schaffen es nicht bis zu den Augen, weil ich so sehr erschrecke über den stroboskopischen Effekt beim Beobachten meiner Armbewegung. Einschießender Gedanke: Ist das Epilepsie?

Dann macht es Zisch und Paff, alle Neonröhren blitzen noch einmal auf, wie ein gewaltiger, synchroner, finaler Leuchtfunke zuckt das gleißend kalte Licht durch den Raum, danach ist alles schlagartig stockdunkel und ich weiß (und brauche es gar nicht mehr denken): Das war’s jetzt.
Also nicht nur mit der Beleuchtung, sondern so insgesamt.

Als ich aufschrecke aus dem Traum und nicht weiterschlafen kann, klappe ich das Smartphone auf, öffne die SZ-App und lese: Der Iran hat Israel angegriffen.

Zwei Nächte später stehe ich des nachts vor dem Turning Torso in Malmö und mache auf einer Steinstufe Dehnübungen. So schleicht die aktuelle Ischiasnerventzündung sich ins Reich der Träume ein: vorsichtig dehnen, vorsichtig die Hüfte beugen, vorsichtig das Bein anwinkeln, vorsichtig strecken.
Anschließend laufe ich los, vom Daniaparken über die Sundspromenaden, die kleine Holzbrücke querend, vorbei am Kallbadhus und weiter Richtung Ribersborgstranden.
Es ist im Traum frühmorgens, also eine Zeit, zu der ich niemals Laufen könnte, das ist das Schöne, dass man in Träumen gelegentlich Dinge tun kann, die man im Wachzustand nicht zustande brächte, die Sonne geht gerade auf der anderen Seite des Öresunds auf.
Ich laufe und laufe und spüre, wie meine Schritte in die Behäbigkeit des morgenfeuchten Sands einsinken, doch dem Licht entgegenzulaufen, das beflügelt mich ungemein.
Auf einmal begreife ich, dass der Sonnenaufgang, den ich sehe und innerlich schon zu einem besonderen Erlebnis v_erklären will, viel zu breit und zu hoch und zu orangegelb ist, um ein gewöhnlicher Sonnenaufgang zu sein.
Die Öresundbrücke steht in Flammen, hinter ihr lodert der komplette Stadtteil Bunkeflo.
Ich wache mit Herzrasen auf und die Nacht ist zuende.

Stunden später, in der Küche stehend und die wöchentliche Gemüsebeilagenration fürs Fräulein kochend, höre ich im Radio, dass die Historische Börse in Kopenhagen brennt.

Vielleicht ließe sich demnächst als überfällige Nachfolgerin von Madame Marie ein kleines Zubrot verdienen, wobei an der Präzision der Prognosen oder der Entschlüsselung der Traumsymbolik zuvor noch etwas gefeilt werden müsste, schließlich steht „Temple of Knowledge“ über dem künftigen Büro und nicht „Sample from College“.

Von all dem abgesehen verspüre ich eine große Sehnsucht nach der Öresundbrücke.
Eine Sehnsucht, die sich äußerst schlecht mit der soeben eingetroffenen Nebenkostenabrechnung zum letzten Mietjahr verträgt: 700€ Heizkostennachzahlung, dabei trugen wir doch auch daheim oft Skiunterwäsche, und zwar so oft, dass ich die Abrechnung einscannen und an den Mieterverein zur Überprüfung schicken werde.

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Nach einem Wochenende in Shorts und Shirt schneeregnet es am heutigen Mittwochmorgen. Ich denke an Frau Graugans im südostlich gelegenen Bergland und an das Dach ihres Hauses und an die Sprachnachricht für sie, die ich seit Tagen stumm bebrüte. Bald ist sie schlupfreif.

In der Umkleidekabine im Lieblingsbad stehen wieder Winterstiefel unter den Schränkchen, und man friert wieder auf den paar Metern, die man bis zum Schwimmbecken durchs Freie laufen muss. Dafür ist es traumhaft leer.
Dass der Frühling sich bloß vorübergehend hinter den dichten grauen Wolken versteckt hat, beweist das konsequente Auftauchen des Entenpärchens an solchen Tagen. Jedes Jahr kehren die beiden zuverlässig zum Ende des Winters ins Schwimmbad zurück und strampeln im munteren Zickzack durch das Wettkampfbecken – selbst für Enten scheint eine Bikinifigur erstrebenswert zu sein.

Da fällt mir mein Coronabikini ein, der irgendwo in einer Schublade vergraben sein müsste. Warum ich ausgerechnet während der Pandemie plötzlich ein Bikinibedürfnis hatte, ist mir im Nachhinein schleierhaft, ich fühle mich in diesen Zweilteilern eigentlich schon immer unwohl. Im Einteiler schwimmt es sich besser, ich vermag nicht zu sagen, wieso das so ist.

Im Wasser rechne ich heute so vor mich hin.
Ein Badeanzug hält im Schnitt 150 Schwimmbadbesuche durch, dann wird er an den immergleichen Stellen durchsichtig und leiert aus, das ergibt eine geschwommene Strecke von ca. 250 Kilometern. Die Schwimmbrille hält meist ähnlich lang, bevor der Gummi morsch wird oder die Gläser erblinden.
Nach etwa 120 Schwimmbadbesuchen kaufe ich daher beides nach, damit ich nicht auf dem Trockenen sitze, falls die Materialermüdung mal eher einsetzen sollte.

Der ständige Schlafmangel hat nun mein seit vielen Jahren funktionierendes Nachkaufkonzept übel durchkreuzt: als ich dieser Tage, 120 Schwimmbadbesuche waren mal wieder vorüber, das neu erstandene Reserve-Equipement in die Sportklamottenschublade legte, entdeckte ich dort, fein säuberlich gefaltet, einen nagelneuen Badeanzug samt noch originalverpackter Schwimmbrille obenauf. Es darf nicht wahr sein.

Das bedeutet, so das Ergebnis meiner Berechnungen, dass ich jetzt noch etwa 330 weitere Male zum Schwimmen gehen kann, bevor ich mir wieder irgendein Schwimmglumpp holen kaufen muss.
Wenn die interne Statistik stimmt, wird das in knapp vier Jahren der Fall sein, sofern Konfektionsgröße oder Erinnerungsvermögen nicht dazwischenfunken.

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Ohrwurm der Woche: „Baila me“, ein Song von anno dazumal, wieder auferstanden dank des Films, den der Freund aus Studienzeiten über unsere kurze und komplizierte gemeinsame Zeit gedreht hat.
Damals fuhr man noch mit per Hand heruntergekurbelten Fenstern durch die Gegend, die Musik kam von ausgeleierten Kassetten und der Erfinder von Spotify saß in einer schwedischen Grundschule und war damit beschäftigt, Lesen und Schreiben zu lernen.

Kulturelles Highlight der Woche: das Herrndorf-Buch „Arbeit und Struktur“ in der Bühnenfassung.
Ein Buch, das man gelesen haben sollte, nicht, um etwas über den Tod zu erfahren, sondern über das Leben (wie die Rheinische Post es mal zusammenfasste).
Wenige Texte haben mich so gefesselt und erschüttert wie dieser.

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Von welchen Zwischentöne und Erschütterungen die Mittwochsbloggefährtin aus dem Bergland zu berichten hat, können Sie hier nachlesen.

4 Kommentare zu “(#47): Pero no siempre cantaré.

  1. Ich versteh Dich. Hab auch eine gewisse Sehnsucht nach dem Öresund und nördlicheren Orten. Ab Sonntag tun es aber erstmal wieder ein paar zu wenige Tage Hiddensee… Liebe Grüße.

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  2. Pingback: # 47 Wüstenstaub, Borges, Schygulla und ich | Graugans

  3. Schlafmangel und krude Träume – da wären wir schon zwei.
    Ich mag rechnende und berechenbare Menschen 🙂
    L.G., Reiner

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  4. Peter Teuschel

    Von der Bühnenfassung dieses wunderbaren Buches habe ich noch nie gehört. Wie soll man das auf die Bühne bringen? Auf Handlung setzen statt auf Gedanken und Gefühle über Leben und Tod? Da bin ich mal gespannt (eigentlich skeptisch, aber ich lass mich überraschen).

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