Gehört Geschwommen Gespürt Montagmittagumzwölf

(#9): Und so schlägt sein Herz.

Um 12:18 Uhr verlasse ich das Schwimmbecken und setze mich herrlich erfrischt auf eine schattige Steintreppe. Das Steißbein schmerzt etwas. Gestern hat mich mitten im Geplaudere mit B. mein rechter Trekkingstock ohne Vorwarung verlassen, indem er in sich zusammensackte, weshalb ich gestürzt bin. Im Sturz noch die Gedankenzuckung, jetzt bloß nicht vornüber zu fallen, sondern lieber auf den Allerwertesten, ein seltsamer Begriff eigentlich, zumindest in meinem Fall, weil der so Bezeichnete mir nie alles wert war oder es sein wird. Trotzdem hat es neben dem rechten Gluteus maximus halt auch noch den Steiß erwischt, was beim Schwimmen nicht weiter stört, aber eben jetzt, beim Auf-Steintreppen-Sitzen.

Weswegen ich hier auch nicht allzu lange sitzen werde an diesem Montagmittag um 12 Uhr. Und noch zwei weitere Gründe stehen heute einer ausführlicheren Auslassung entgegen.

Zum einen will und muss der Papa besucht werden, es ist beschämend lang her, dass ich zuletzt bei ihm war, und noch beschämender ist, dass mir diese Pause gut getan hat. Als würde ich damit einer Peripetie ausweichen können, als würde ich durch mein Fernbleiben die Parkinson-Pausetaste drücken. Mal nicht Hinschauenmüssen, wie sich der Wandel vollzieht, dessen „von“ und „zu“ ich jetzt gar nicht ausführen oder denken mag, nun da es mir erstmals seit 14 Monaten länger als 3 Tage am Stück wirklich gut geht.

Zum anderen: Der geliebte Herr Brandauer ist nun 80 geworden, einen Tag nachdem ich den ebenfalls geliebten Mr. Springsteen nach sieben Jahren Zwangsabstinenz in Düsseldorf wiedersah. Auf der Rückreise lese ich die Huldigungen in den diversen Tageszeitungen, erinnere mich daran, wie ich ihn als „Nathan“ im Burgtheater erleben durfte (und hernach als Zwiderwurzn am Bühnenausgang), dann trudeln die ersten Online-Rezensionen zu der Messe in der Merkur-Spiel-Arena vom Vorabend ein.

Und ich bin auch fünf Tage danach noch ganz gefangen in diesem Düsseldorfdunst, befinde mich nach wie vor in einem inneren Nachbeben des ersten Konzerts dieser kleinen Serie der letzten Konzerte.

Wenn Ihnen das am eingangs bereits erwähnten Allerwertesten vorbeigeht, lesen Sie einfach ab hier nicht mehr weiter, Verständnis erwarte ich mir sowieso keines und nur in wessen Brust selbst ein Fanherz schlägt (egal, für was oder wen), wird diesen beseelten Zustand womöglich nachfühlen können.
Wen es aber interessiert, dem empfehle ich die Konzertkritik aus dem „Rolling Stone“ (nebenbei: nett, wenn ein Artikel mit der Überschrift „Last man standing“ ausgerechnet von einer Journalistin namens Birgit Fuß verfasst wurde) und ergänzend dazu ganz unbedingt die Rezension von Joachim Hentschel mit dem Titel „Und so schlägt sein Herz“ in der Süddeutschen Zeitung.

Nach „The Ties That Bind“ gleich zum Auftakt des Abends war klar: keiner von uns, die wir uns da (jeder mit seinen Zipperlein) im Front-of-stage-Bereich versammelt hatten und stundenlang bei einer Affenhitze zerquetschen ließen, war je weg von der Nadel, alle hingen wir noch dran, vielleicht nicht mehr mit der Vitalität wie wir sie vor 10, 20 oder 30 Jahren noch hatten, aber immer noch mit genug Begeisterung, um diesen kiss to seal our fate tonight zuzulassen – gemeinsam gealtert, gemeinsam singend und tanzend, was das Zeug hält.
Neben uns bricht ein Mittfünfziger (Familienvater, der mit seiner Frau und den drei halbwüchsigen Kindern aus Braunschweig gekommen ist, die ganze Sippe total text- und taktsicher) in der zweiten Hälfte von „Backstreets“ in Tränen aus.
Ohne jede Attitüde und Theatralik, ganz still steht er da auf einmal, die Tränen rinnen ihm übers verschwitzte Gesicht und alles hängt herunter an diesem erwachsenen Mann, die Schultern, die Arme, die Mundwinkel, das gesamte Nervenkostüm, er sieht aus wie ein kleiner Junge, der fassungslos in den Klauen der ersten Katastrophe seines noch so kleinen Seins gelandet ist, aufgeschmissen ist, nicht mehr weiter weiß.
Wir sehen uns an, der Familienvater und ich, meine Lippen können es noch formen, was die seinen ihm in dem Moment verwehren, when the breakdown hit at midnight there was nothing left to say, singe ich also für uns beide, und so wird es mir wohl auch ergehen, wenn in vier Wochen in München der Schlussakkord durchs Stadion schallt.
Wir erfahren dann später: Es ist sein letztes Konzert gewesen, das Loslassen schmerzt, denn ein ganzes Leben ist ja (mal mehr, mal weniger) verbunden mit dieser Musik, mit allem, was man mit ihr und durch sie erlebt hat.

Ich kann Begrüßung, ich kann Übergang, ich kann sogar Bleiben, aber Abschied, das kann ich nicht.

Das montägliche Mittagsnotat von Frau Graugans lesen Sie hier.

7 Kommentare zu “(#9): Und so schlägt sein Herz.

  1. Pingback: #9 In den Gängen | Graugans

  2. Anfang der 70er Jahre sagte Lou Reed in einem Konzert: „…and Springsteen, he`s a good guy.“ Lob aus berufenem Munde.

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  3. Ich habe den „Boss“ dieses Mal im Mai in Paris erleben dürfen. Es war „mein neuntes Mal“ (seit 1988). Wenn ein Musiker und seine Musik so lange das eigene Leben begleiten, kommentieren und kontrastieren, dann ist jede erneute Begegnung mit ihm auch eine Begegnung mit dem eigenen Sein. Ich war auch sehr bewegt und auch mich begleiteten Tränen: Es war ein Konzert zusammen mit meiner (erwachsenen) Tochter, die in den vergangenen Jahren auch zu einem Fan seiner Musik wurde. Danke für deinen schönen Text.
    Liebe Grüße,
    Werner

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    • Fühle mich nicht nur sehr verstanden, sondern verstehe – wie ich zumindest meine/hoffe – auch deine ergänzende Schilderung: diese Begegnung mit dem eigenen Sein, der eigenen (Lebens-)Geschichte ist es auf jeden Fall auch, der man sich an solchen Abenden stellen muss/darf. Und je länger diese beiden Geschichten miteinander verwoben sind (die eigene und die musikalische), desto mehr gibt es in diesem Geflecht auch, in dem man sich verfangen kann oder das einen auffängt – je nachdem. Ach ja.
      Liebe Grüße zurück,
      Natascha

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  4. Gestern Nacht beim letzten Konzert in Göteborg waren Bruce’s letzte Worte: „We’ll be back!“ … ich hab das Gefühl, Abschied kann auch er nicht … 😉
    Und am letzten Abend bekam Göteborg auch den Stadium Breaker „Twist & shout“ … ob die Schweden wirklich für ihn „Thank you for the Music“ angestimmt haben, ist leider nirgends nachzulesen …

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  5. Pingback: Mittwochnachmittag, 16:35 Uhr (#3): We are alive. – Kraulquappe

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