Calm this storm so the water’s still, dröhnt es aus den Boxen, take me back where my pure love dwells.
Willy DeVille begleitet mich das kurze Stück über die Autobahn zum See, far away from this affliction, far away from this place where I once fell.

Ich parke am Unfallort, genau dort, wo das Dackelfräulein vor zwei Jahren angefahren wurde. Im Kies knirschende Reifen, die sich von hinten nähern, werden sie für immer verfolgen. An guten Tagen blickt sie sich mittlerweile nur noch für das Zucken einer Paniksekunde über die Schulter, an nicht so guten Tagen duckt sie sich mit angstgeweiteten Augen zu Boden.
Heute ist einer der nicht so guten Tage. Lay us down easy, Willy.

Grau gekräuselt liegt der See zu meiner Rechten, müde schlurfe ich an seiner Uferlinie entlang, das Fräulein läuft langsam voraus und lässt den Fischkadaver, der früher sofort ihr Interesse geweckt hätte, links liegen.
Das Älterwerden bringt eindeutig auch Vorteile mit sich.

DeVille noch im Ohr grüble ich über einen Text nach, den ich nicht fertigschreiben kann, es mangelt ihm an einem Rahmen, einer Einbettung. Wie ein irgendwo entnommenes Organ hängen die Sätze schwebend im luftleeren Raum, ein Spenderherz auf der Suche nach einer Umgebung, in der es seiner Bestimmung nachgehen darf: schlagen, pumpen, leben.
Lay me down easy, I’m too tired to roam.

*****

Von allen Seiten schleicht sich momentan Vergangenheit in meine Gegenwart, unterschiedlich lang Vergangenes, und immer auf eine Art, dass ich ihr gerne einen Sitzplatz anbiete, ihr gern zuhöre, sie interessiert anschaue, sie hereinlassen kann ins Jetzige.

M. schickt ein überwältigendes YouTube-Video von einem der ersten Springsteen-Konzerte nach der Magengeschwürpause des einst so Unverwüstlichen. „Something In The Night“ als Opener in San Francisco, wie ein Junkie hört man’s und will sofort hin, um sich diesen puren, edlen Stoff reinzuziehen, es wird nie aufhören, auch wenn es dann mal vorbei ist.

Der andere M. schickt die Sitzplatzbuchungen für den voraussichtlich letzten Flug meines Lebens, er hat mich nun doch überredet, auf die zwölfstündige Bahnfahrt zu verzichten und mich stattdessen in zwei Stunden von München nach Heathrow befördern zu lassen.
Drei Monate habe ich mit mir gerungen, vor zwei Wochen habe ich dann Ja gesagt zur Fliegerei, damit wir uns zum dritten Mal endgültig von Bruce verabschieden können, dabei war dem Konzert in München wirklich nichts mehr hinzuzufügen, es wäre ein würdiger Abschied von einer wunderbaren Ära gewesen, ich bräuchte eigentlich keinen Nachschlag mehr, doch für ein „Something In The Night“ würde es sich freilich irre gelohnt haben.
Betrachten wir’s einfach als Digestif oder als das, was es für M. ist: die Verwirklichung seines Wembley-Traums, bei dem er mich dabeihaben möchte, weil wir eben fast alle wesentlichen Konzerte gemeinsam erlebt haben.

Heute Abend nach anderthalb Jahren ein Abend mit A., der ich zu Schulzeiten eng verbunden war, bis ihre Münchenflucht uns räumlich auseinanderriss und unsere Leben sich erschreckend bald in unterschiedliche Richtungen verliefen: sie Eso, ich Realo, sie Katze, ich Hund, sie Strand, ich Berg, sie süß, ich salzig. Doch es blieb immer eine Kammer erhalten, in der wir uns miteinander noch auskennen und zu der wir beide den Schlüssel aufbewahrt haben.

Das Minzteeglas leer, der Magen flau, schon seit Tagen, wahrscheinlich der extreme Schlafmangel, das Hündchen döst mit Impfbeule an der Flanke unter der Bank des Seecafés, man könnte den Tag hier ebenso problemlos untergehen lassen wie die Sonne, doch daheim wartet ein Koffer darauf, noch vor Sonnenuntergang gepackt zu werden für eine sehr frühe Bahnfahrt morgen.

Endlich stundenlang Ruhe und den Kafka zuende lesen, dazwischen aus dem Fenster gucken und Willy DeVille hören. Lay me down easy.

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Und was Frau Graugans gerade so hört und sieht, das finden Sie hier.

1 Kommentar zu “(#45): Herz sucht Ort.

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