„Mama, was hat die Frau da für rote Kreise am Arm?“ höre ich ein kleines Mädchen in der Umkleide krähen, während es hemmungsfrei mit dem Finger zu mir rüberzeigt. Peinlich berührt biegt die Mutter den Arm ihrer Tochter nach unten, läuft rot an und zischt dem Kind aufgebracht etwas ins Ohr.
„Die Frau da hat einen kreisrunden Ausschlag von einem Medikament“ antworte ich, um die Situation ein wenig zu glätten und der Mutter die Pein zu nehmen. Die Mutter nickt erleichtert, sagt „Oh!“ und flüstert dem Mädchen, das immer noch neugierig guckt, wahrscheinlich eine Art Entwarnung zu.

Während des Abtrocknens spinne ich den Dialog stumm noch ein Stückchen weiter, und stelle mir vor, wie die Mutter wohl gucken würde, wenn ich das Gespinst ausspräche – kein Mensch würde sowas hören wollen und erst recht nicht drauf reagieren müssen.
Dann stecke ich meine rotbefleckten Arme in einen dunkelroten Pullover, stopfe die nassen Schwimmsachen in den hellroten Rucksack und verlasse die Umkleide.

Schwimmen ist eine Sportart für Menschen, die es mit und in ihrer Haut und ihrem Körper gut aushalten können sollten, weil a) so ein Badeanzug verdammt wenig zu verbergen vermag und b) man sich viel zu oft öffentlich aus-/um-/ankleiden muss. So betrachtet wäre ich im Tauchsport besser aufgehoben gewesen. Oder beim Fechten oder Skifahren. Umkleideraumzwangsnacktheit hingegen ist mir oft unerträglich.

Weil ich das Dackelfräulein daheim bestens vom Gatten betreut weiß, gönne ich mir nach dem Erstschwimmen 2024 – das Becken, nebenbei bemerkt, erwartbar voll von guten Vorsätzen, die die Bahnen verstopfen – noch ein Getränk im Schwimmbadlokal, weil man von dort einen so schönen Blick auf das beleuchtete 50-Meter-Becken hat, und lese auf dem Smartphone ein paar Zeitungsartikel, was ohne Brille und mit Restchlor in den Augen recht beschwerlich ist.
Mitten aus einem der Texte gafft mich eine großlettrige Werbeanzeige für einen der zahlreichen Happy-New-Year-Beiträge an (schlanker-fröhlicher-gesünder-erfolgreicher oder sonstwie besser), er trägt die Überschrift: „Wenn Sie diese fünf einfachen Dinge machen, leben Sie zehn Jahre länger“, was mich keineswegs zur Lektüre animiert, stattdessen aber zu der Überlegung, eine Replik zu diesem Lebensoptimierungsmotivationskäse zu verfassen, Arbeitstitel: „Wie Sie sich mit diesen zehn Dingen so beschweren, dass Sie fünf Jahre früher abtreten können“.

Mit den Neujahrswünschen hinke ich heftig hinterher, dabei wollte ich das spätestens am 3. Januar, also heute, erledigt haben.
Nicht dass es so viele wären, die ich überhaupt bewünschen könnte, aber da ich schon zu Weihnachten kaum wem geschrieben hatte, nahm ich mir vor, das zum Jahresanfang nachzuholen („Den Plan verspür ich wohl, allein mir fehlt der Elan“ – oder wie auch immer es Faust formulierte).

Beim Übertragen der Geburtstage und Adressen vom alten Filofax ins neue fällt schon wieder weniger Schreibarbeit an, der Kalender wird von Jahr zu Jahr übersichtlicher, das Adressverzeichnis leerer, folglich wird auch die Wünscherei weiter schrumpfen, so wie eh einiges, das schon einen längeren Daseinsprozess hinter sich hat, mit der Zeit der Verschrumpfung anheimfällt.

Mit der Freundin tausche ich mich neulich – Anlass war eine der seltenen Einladungen, die ich jüngst erhielt, geladen wurde zu einem Sonntagsbrunch, an dem ich aus Gründen, die ich hier nicht erläutern will, wohl nicht teilnehmen werde – länger über den Begriff und das Phänomen „Freundeskreis“ aus.
Beide verfügen wir nicht ansatzweise über die nötige Anzahl an Freundinnen und Freunden, aus der sich ein solcher Kreis konstruieren ließe, im Gegenteil, auf zwei zerbrochene Freundschaften kommt ja längst nicht mal mehr eine neue. Aktuell könnte ich allenfalls noch von einer Freundeslinie sprechen, mit Tendenz zum Freundesstrich, ein Wort, das spontan etwas schräge Assoziationen weckt, doch bei genauerer Betrachtung sind die vielleicht gar nicht so schräg.
Das wird sich wieder legen, wenn aus dem Strich beizeiten mal ein Punkt geworden ist, ich prognostiziere, dass es um 2026 so weit sein könnte, falls die Entwicklung so weitergeht wie in den letzten Jahren.

In der Neujahrsnacht träume ich von einem ehemaligen Freund, dem ich bei einer U-Bahn-Fahrt zufällig wiederbegegne und der so tut, als sei nichts gewesen, womit er streng genommen sogar recht hat, da zumindest nicht das zwischen uns gewesen ist, wovon ich lange ausging. Wir verlabern uns in dämlichem Dahingeplänkel, dann platzt mir doch noch der Kragen, als er plötzlich übertrieben milde lächelnd zu mir sagt, er würde ganz oft und voller Freude an unsere gemeinsame Zeit denken. Sein Lächeln stürzt nach meinem verbalen Auswurf sofort ein, er sieht mich erschrocken an, und ich steige grußlos an der nächsten Station aus, obwohl ich dort gar nicht raus muss. Den meisten bin zu kompliziert oder zu anspruchsvoll (geworden/ gewesen), manchmal gilt das sogar für mich selbst.

Wort der Woche (jede Katastrophe hat ihr Spezialvokabular): Landessandsacklager.

Was es nicht alles gibt.

Das denken wir gestern Abend auch, als wir im Fernsehen eine Dokumentation aus der Reihe „Megacities“ anschauen, die uns auf einen Streifzug mitnimmt durchs nächtliche Chongqing – ein kleiner Einblick in eine riesige, von 32 Millionen Menschen bevölkerte Metropole, bei dem mir schier die Spucke wegbleibt. So viel Hightech, so viel Beton, so viel Höhe/Tiefe, so viel Verkehr, so viel Gestank, so viel funkelndes Licht, so viel irrlichterndes Leben.
Dagegen herrscht hier in München vergleichsweise noch Mittelalter, gottseidank.

Ich nippe am Maracujasaft, unter der Sitzbank schlummert das Fräulein auf ihrer Matte, ich gucke hinaus auf den See, mal wieder fegt ein Sturm übers Wasser, nirgends kommen sie mehr hinterher mit dem Wegräumen all der abgebrochenen Äste. Das neue Jahr präsentiert sich bislang genauso verwüstet wie das alte, und das nicht nur der Sturmschäden wegen.
Da gilt es, Anker zu setzen: in einer Woche ein neu erscheinendes Buch besorgen und lesen, in zwei Wochen ein Theaterbesuch, in drei Wochen endlich ein Wiedersehen mit der Berliner Freundin, in vier Wochen wird der Papa zu einer Abendveranstaltung ausgeführt.

Jetzt zusammenpacken, hinaus ins Gebläse und zurück zum Parkplatz wehen lassen.

Windige Flachlandgrüße hinüber ins vermutlich noch windigere Bergland, wo die liebe Graugans herumflattert und ebenfalls mittwöchig ein neues Notat verfasst hat.

Und Ihnen allen noch ein stabiles neues Jahr & herzlichen Dank für Ihre so zahlreichen und freundlichen Glückwünsche für das Dackelfräulein!


5 Kommentare zu “(#33): Von Kreisen, Linien und Strichen.

  1. Pingback: #33 Wer suchet… | Graugans

  2. Gleichfalls gute Wünsche für ein junges, gesundes und wohlbehaltenes wie auch friedliches neues Jahr!
    Herzliche Grüße nach München aus Nürnberg
    Bernd

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  3. Ah… cool. Mal wieder ein erzählender Blog. Das gefällt mir. Und Bilder… inkl. Hund. großartig. Das gefällt mir.

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