Vor einiger Zeit erschien mein Mittwochnachmittagsbeitrag versehentlich mal dienstags, das gleiche ich hiermit aus und schreibe erst heute, mit einem Tag Verspätung.
Gestern, zu verabredeten Blogzeit, ging gar nichts. Da stand ich mit Teppichmesser in der Hand auf einem Wertstoffhof im Tegernseer Tal, zerlegte Kartons, wuchtete Matratzen und Polster in die dafür vorgesehenen Container und flocht Plastikfolien zu Würsten, damit sie sich noch irgendwie in die Ränder des Wertstoffbehälters stopfen ließen.

Der Papa und die Lebensgefährtin misten aus. Sollten sie das ernsthaft weiterbetreiben, winken noch etliche solcher Fahrten, denn das Haus quillt über vor Aufgehobenem, um das vierzig Jahre oder länger niemand ein Aufhebens machte.
Ich tippe allerdings eher auf ein baldiges Projektende, weil sie eigentlich seit Jahren kaum noch etwas wirklich zu Ende bringen. Es wird mal hier gewurschtelt und mal dort, aber etwas zu Ende zu bringen, dafür müssten Entscheidungen gefällt werden, doch Entscheidungen zu fällen, fällt in einer Lebensphase, der keine weitere mehr folgen wird, offenbar zunehmend schwerer.

Beim Abendessen sagt der Papa, er habe seine Ordner umsortiert und überall ein Deckblatt eingefügt, damit ich mich leichter zurechtfände, wenn es denn mal soweit wäre.
Nach dem Essen sprechen wir dann über dieses „es“ bzw. über das, was dem „es“ unmittelbar folgen wird: nämlich eine Bestattung.
Mir werden Friedhofsunterlagen gezeigt, es gibt bereits ein Familiengrab seitens der Lebensgefährtin, da will er auch mit hinein. Wir sprechen über Grabsteine, über Inschriften, über Trauerfeiern und über Todesanzeigen. Der Papa möchte keinen großen Zirkus, keinen Pfarrer, keine Zeitungsanzeige, keine Trauergäste. Wenn jemand, der gut reden kann, ein paar Worte sagt, reiche ihm das völlig, meint er. Du kannst das doch gut!, sagt er, und guckt mich dabei nicht an, sondern fixiert den Suppenfleck auf seinem Hemd, als Einleitung meiner Antwort belle ich ein Empörungslachen über den Esstisch und entgegne: Nein, ich kann da nicht reden, ich heule dann!

Ein paar unwirklich anmutende Überlegungen weiter landen wir schließlich beim Thema Musik. Erst verkündet er, das sei ihm alles nicht wichtig, doch später kommt er nochmal drauf zurück und ist auf einmal davon überzeugt, es sollten drei Lieder gespielt werden, und beim dritten und letzten Lied, da fände er es schön, wenn alle mitsingen.
Weil die Lebensgefährtin sofort ihr Unverständnis in diese Äußerungen hineinkreischt, komme ich nicht mehr dazu, ihn zu fragen: Welche drei Lieder, Papa, welche?

Spätabends auf der Heimfahrt denke ich dauernd an diesen seinen Wunsch, der so plötzlich aus ihm herausbrach. Mit einem Schaudern im Nacken gleite ich im Auto durch die Nacht: vor über einem Jahr, als ich mal über die Zeremonien nachdachte, die ich dann zu organisieren hätte, wenn dieses „es“, dessen wahren Namen der Papa nicht auszusprechen wagt, eines Tages eingetreten wäre, kam ich zu dem Schluss, dass ich einen befreundeten Musiker bitten möchte, auf der Beerdigung meines Vaters drei Lieder zu spielen. Dem Papa habe ich das nie erzählt. Drei Lieder, die ich immer mit ihm verbinden werde, so war meine Idee. Und nun bin ich furchtbar gespannt, ob er vielleicht dieselben drei Lieder für sich aussuchen wird.

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Durch den Park trabend, um mir das gestrige Bestattungsgespräch ein bisschen aus dem Leib zu schütteln, nähere ich mich von hinten einem jungen Paar.
Sie zu ihm: Was macht dein Chill-Barometer? Er daraufhin: Bin voll unterhopft zur Zeit, und du? Sie: Same!
Bemerkenswert ist daran vor allem, dass beide in ihrer jeweiligen Außenbaumelhand ein halbleeres Augustiner mit sich trugen. Doch vielleicht bedeutet „unterhopft“ nicht das, was ich damit assoziiere.

Die Vokabel erinnert mich außerdem an einen netten Abend letztens in Bonn. Mein geschätzter Blogfreund C. führt mich in ein Lokal aus, seine beiden Lieb(st)en, die ich noch nicht kannte, sind ebenfalls zugegen.
Bevor ich auch nur die Karte aufklappen kann, steht bereits ein üppig eingeschenkter Aperitif vor mir, an dem ich auch während des Essens noch reichlich zu trinken habe. Die drei Männer hingegen sind schon längst beim sounsovielten Kölsch, ich lehne bei jeder Bestellrunde höflich ab und deute auf meinen immer noch nicht geleerten Aperitif. Sagt einer der Männer unvermittelt zu C. (dabei dezent auf mich und mein Erstgetränk deutend): Du hattest uns doch erzählt, die sei gut am Glas?!?

Gut am Glas erscheint mir ebenso interpretationsbedürftig oder auslegungsfähig wie unterhopft, doch abgesehen davon gefallen mir beide Ausdrücke sehr und der Abend mit den Dreien war wunderbar, so eine fröhliche, fast überschäumende Herzlichkeit ist in Bayern eher selten anzutreffen.

Wäre man in derselben Stadt ansässig, wäre man womöglich wirklich bald gut am Glas und tagsüber entsprechend unterhopft.

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Es gäbe noch viel zu schreiben oder vieles, über das schreibend nachzudenken wäre. Über den zu frühen Frühling an der Isar und auch am Rhein, über die sich fortsetzenden Fisimatenten des Fruchtbarkeitsfinales, über die miesen Nächte mit drei Stunden Schlaf und die gespenstischen Tage danach, über den Freund von ganz früher, der mir einen Film über unsere gemeinsame Zeit zugeeignet hat, der mir wie ein Schlüssel zu meiner Vergangenheit vorkommt, über den Freund von noch nicht ganz so lang her, der sich im Supermarkt geschwind hinter das Eierregal ducken will, um mir lieber nicht zu begegnen – sowie über den bislang erfolglosen Versuch, dem Fräulein eine morgendliche Urinprobe abzuringen (stellen Sie sich zwei Menschen vor, frühmorgens übers Trottoir schleichend, der eine hält die Leine, an deren Ende bzw. Anfang, je nachdem, wie valentinisch man’s betrachten mag, das Dackelchen in aller Seelenruhe zum Grünstreifen wackelt, die andere läuft gebückt, mit einer Aufziehspritze in der einen und einem Plastikbecher in der anderen Hand, immer knapp hinter dem Hundehintern her, der sich alsbald pflichtschuldig senken wird, doch leider stets an einer Stelle, an der alles sofort versickert und sich nichts auffangen lässt – die Tierärztin lacht am Telefon, und die Nachbarn, so sie denn morgens aus dem Fenster gucken, dürften auch ihren Spaß haben, wenn allmorgendlich das kleine Rudel aus dem 2. OG wieder zu Operation „Pipiprobe“ ausrückt).

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Was die liebe Frau Graugans so denkt und schreibt, das konnten Sie bereits gestern hier lesen. Und heute natürlich immer noch.

10 Kommentare zu “(#46): Drei Lieder.

  1. Ich denke dabei sofort an:
    1. ich habe sogar jetzt schon eine „Playlist“ für „es“ und
    2. an „Pippapippi“…(hätt Euch gern dabei zugeschaut)

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  2. Sie sind jederzeit wieder herzlich willkommen in Bonn.
    Ihr C und seine Lieben

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  3. Das Schöne an Sprache: ihre regionalen Unterschiedlichkeiten und ihr stetiger Wandel.

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  4. Das Schöne an Sprache: ihre regionalen Unterschiedlichkeiten und der stetige Wandel…

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  5. Ich hatte schon befürchtet, mein Mittwochsupdate nicht zu bekommen. Danke fürs Schreiben! Ich lese hier immer wieder gern!!

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